Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №8/2010

Das liest man in Deutschland

Der Dichter und sein Doppelgänger

War William Shakespeare nur der Strohmann eines aristokratischen Poeten, der anonym bleiben wollte? Ein deutscher Autor tritt mit einer aufregenden neuen Biografie für den «anderen Shakespeare» ein – und beflügelt einen alten Verdacht.

Fortsetzung aus Nr. 07/2010

Als Graf von Oxford hat de Vere beträchtliche Ländereien geerbt, doch auch beträchtliche Schulden; ein guter Teil seiner überlieferten Korrespondenz aus drei Jahrzehnten (mit der Unterschrift «Edward Oxenford») handelt von finanziellen Nöten und Engpässen. Der standesgemäß luxuriöse Lebensstil zwingt ihn, ererbte Landgüter und Dörfer nach und nach zu verkaufen. 1586 gewährt die Königin dem Grafen, der ihr bei offiziellen Anlässen das Staatsschwert vorauszutragen hat, doch sonst kein Hofamt ausübt, lebenslang die stattliche Rente von jährlich tausend Pfund, ohne besonderen Anlass – es sei denn, man betrachtet sie, wie die Oxfordianer, als Honorar für herausragende Dienste als Hoftheaterdichter.
Allerlei literarische Aktivitäten des Grafen sind bekannt, etwa lateinische oder englische Einleitungen zu philosophischen Werken, deren Übersetzung und Herausgabe er finanzierte – darunter das Buch, das Hamlet (nach Meinung vieler Experten) auf der Bühne liest. Für die poetische Produktion des Grafen von Oxford, wie für die seiner noblen Zeitgenossen, haben sich Historiker seit dem 19. Jahrhundert interessiert. Die Gedichte finden sich in höfischen Manuskriptsammlungen und in gedruckten Anthologien, mal anonym, mal unter verschiedenen Pseudonymen, mal mit den Initialen «E. O.».
Die Zuordnung im Einzelnen ist oft Sache des literarischen Feingefühls, zum Beispiel bei angeblichen De-Vere-Gedichten, die in Shakespeares Romeo und Julia oder dem Kaufmann von Venedig zitiert werden. Kreiler hat sich in den Jahren der biografischen Forschung auch als Übersetzer der oxfordschen Lyrik hervorgetan, und er nimmt, scharfsinnig argumentierend, eine neue Zuordnung für sich in Anspruch: eine eigenartig «shakespearisch» anmutende Novelle mit der Hauptfigur Fortunatus Infoelix, die 1573 anonym gedruckt wurde.
Im Alter von 24 Jahren begibt Edward de Vere sich auf kontinentale Bildungsreise: ein paar Monate als Gast am französischen Hof, dann kreuz und quer durch Nord- und Mittelitalien. Als er nach 14 Monaten zurückkommt, trennt er sich von seiner Frau. Sie hat ein halbes Jahr nach seiner Abreise eine Tochter geboren, und vermutlich verdächtigt er sie, ohne das je publik zu machen, des Ehebruchs.
In den Jahren nach seiner Rückkehr beginnt – nach Überzeugung der Oxfordianer, für die es freilich so wenig handfeste Beweise gibt wie für die ganz andere Chronologie der Stratfordianer – die regelmäßige Aufführung von de Veres Stücken durch professionelle Schauspieler am Hofe. 1578 schenkt die Queen ihm ein Schloss; im Januar 1581, nach einem glanzvollen Turnier, küsst sie ihn als Zeichen höchster Gunst öffentlich auf den Mund.

Man traut Shakespeare alles zu
Zwei Monate später ist alles aus: Eine der adeligen jungen Hofdamen, deren Keuschheit die Keuschheit der Königin umkränzen soll, bringt einen Jungen auf die Welt und nennt ihn nach seinem Vater Edward. Die Queen lässt das ehebrecherische Paar für einige Monate in den Tower sperren, danach wird der Graf vom Hof verbannt und erst nach zwei Jahren (und einer förmlichen Versöhnung mit seiner Ehefrau) wieder in Gnaden zur Audienz empfangen. In dieser Zeit erzwungener Zurückgezogenheit könnte er zum großen Künstler gereift sein.
Die Tücken der Datierung von Shakespeare-Stücken machen einen guten Teil der Kleinarbeit in der Kontroverse aus. Doch auch das Gewicht eines Bindestrichs ist nicht zu unterschätzen. Auf Buchtitelseiten heißt der Autor oft Shake-speare. In Dokumenten kommen diverse Schreibweisen von Shagspere bis Shaxpere vor, das Testament ist krakelig mit Shakspere unterschrieben.
Wäre es denkbar, dass de Vere zufällig den jungen Schauspieler aus Stratford kennengelernt hatte, etwa als Mitwirkenden in einer Hofaufführung, und wie einem diskreten Agenten den «Vertrieb» seiner Stücke fern vom Hof anvertraute? Vorstellbar ist das, wenn man sich etwa an Prinz Hamlets zwanglosen Umgang mit einer Schauspieltruppe erinnert. Doch im realen London von damals waren die Standesgrenzen strikt und die sozialen Abstände riesig.
Kreiler hält deshalb eine andere These trotz aller Merkwürdigkeit für plausibler, nämlich, der dichtende Aristokrat habe sich, um Literarisches zu publizieren, um 1590 das Pseudonym William Shakespeare (mit Bindestrich) ausgedacht: «Speer-Schüttler», in Anspielung auf seinen Ruhm als Turnierkämpfer und auf seine literarische Schutzgöttin, die speerschwingende Pallas Athene. Kühne Spekulation: Ein Jahrzehnt später könnte die zufällige Namensgleichheit zu einer Verwechslung mit dem Theatermann geführt haben.
In einer berühmten, wohl um 1592 entstandenen (doch erst 1609 veröffentlichten) Reihe von Shakespeare-Sonetten preist ein alternder Mann schwärmerisch die Schönheit eines namenlosen Jünglings, versucht ihn aber zugleich zum Heiraten zu überreden. Die Oxfordianer wie die Stratfordianer neigen dazu, diesen Jüngling als den 1573 geborenen Henry Wriothesley, Earl of Southampton, zu identifizieren, und die Oxford-Partei hat in diesem Fall die entschieden besseren Argumente, denn Wriothesley war damals de Veres Schwiegersohn in spe.
De Veres Schwiegervater Burghley (den er, wie die Oxfordianer meinen, als Polonius in Hamlet porträtiert hat) war nämlich auch heiratspolitisch aktiv. Für seine Enkelin, de Veres Tochter, handelte er früh einen Ehekontrakt mit einem seiner Mündel aus – eben dem halbwüchsigen Wriothesley. Doch dieser widersetzte sich, als seine Volljährigkeit nahte, der Ehe. Die Sonette, so schön sie auch sind, konnten ihn nicht umstimmen; Wriothesley zahlte die enorme Konventionalstrafe von 5000 Pfund, um frei zu bleiben.
Ein paar Jahre später ruinierte er seine Hofkarriere, indem er denselben Fauxpas wie einst de Vere beging: Er verführte eine der Hofjungfrauen der Königin – doch da er frei war, konnte er sie heiraten und wurde, wie es heißt, glücklich mit ihr. Edward de Vere, dessen Frau früh starb, heiratete 1591 ein zweites Mal; er bekam endlich auch einen standesgemäßen männlichen Erben, doch in ein ruhiges Eheleben schickte er sich offenbar nicht.
Sein Wunsch, der Königin auch durch militärische Ruhmestaten zu dienen, blieb unerfüllt – vielleicht, weil die Königin ihn als Entertainer nicht missen mochte. Die Oxfordianer meinen, er habe seine Berufung und sein Glück darin gefunden, die Hofgesellschaft zweimal im Jahr mit einem neuen Stück zu überraschen, seit 1594 meist vom Ensemble der «Chamberlain’s Men» einstudiert.
In ebendiesem Ensemble hatte der junge, als Schauspieler offenbar nicht herausragende William Shakespeare aus Stratford seine Talente als Manager entwickelt. Als die «Chamberlain’s Men» 1599 das neue Globe Theatre eröffneten, eine Freilichtbühne für mehr als 2000 Zuschauer am südlichen Themse-Ufer, war Shakespeare als Teilhaber und als Miteigentümer der Immobilie dabei. Die Autoren der Stücke wurden damals von den Theatern in der Regel nicht erwähnt und blieben dem Publikum unbekannt (ihre Namen stehen meistens auch nicht in den Zensurakten) – insofern spricht nichts gegen die Hypothese, der beste Teil des Globe-Repertoires könnte von de Vere stammen.
1603 stirbt Elizabeth I. Ihr aus Schottland stammender Nachfolger James I., der Sohn Maria Stuarts, ist nicht weniger theaterliebend. Im Winter 1603/1604 lässt er die Truppe aus dem Globe Theatre achtmal am Hof auftreten, wahrscheinlich ist unter den Stücken als Novität die schottische Tragödie Macbeth, die das besondere Interesse des Königs an Hexenwesen und Weissagungen befriedigt und quasi dessen Thronbesteigung prophezeit. Das Ensemble des Globe Theatre wird mit dem Ehrentitel «The King’s Men» belohnt. Edward de Vere bekommt vom König einen Landsitz geschenkt, doch er stirbt, 54 Jahre alt, ein paar Monate später.
William Shakespeare aber war bis 1612 am Globe Theatre aktiv, das auch neue Stücke herausbrachte: Deshalb fühlen sich die Stratfordianer ihrer Sache sicher. Die Oxfordianer jedoch entgegnen: Es gibt keinen Beweis dafür, dass irgendein Shakespeare-Stück nach 1604 entstanden ist; und die Reihe sorgfältig gemachter Buchausgaben der Stücke unter dem Namen William Shake-speare, die 1598 zu erscheinen begann, bricht 1604 ab – eines der bedenkenswertesten Argumente für de Vere.
Jahre später erst, so die Theorie der Oxfordianer, hätten die Erben des Grafen beschlossen, dessen sämtliche Stücke (darunter 18 noch nie gedruckte) in einer monumentalen Ausgabe zu veröffentlichen, dabei aber das selbstgewählte Pseudonym seinem Wunsch entsprechend gewahrt. Deshalb hätten sie nun die zufällige Verwechslung mit dem 1616 verstorbenen Theatermann aus Stratford mit Absicht verewigt. Dessen jüngerer Freund Ben Jonson, selbst ein erfolgreicher Dramatiker, habe, so vermutet Kreiler, die außerordentlich aufwendige Edition betreut.
Jedenfalls hat Jonson zu dieser als «First Folio» berühmt gewordenen Ausgabe von 1623 eine Lobeshymne beigesteuert, die Shakespeare als größten Dichter aller Zeiten preist, und mit der Wendung «Süßer Schwan von Avon» eine – bewusst falsche oder doch richtige? – Spur nach Stratford-upon-Avon gelegt. Dort in der Kirche wurde dann auch, man weiß nicht, von wem, ein sehr teures Grabdenkmal aufgestellt.
Kein Zweifel: Kreilers Buch ist spannend und macht nachdenklich. So brillant er mit einer Fülle verblüffender Details für seine These plädiert, so temperamentvoll er über alle Kabalen des Literaturbetriebs am elisabethanischen Hof hinaus ein zeitgeschichtliches Panorama entwickelt – es bleibt die Frage, ob Edward de Vere, ein Mensch mit großen Leidenschaften und großen Talenten, wirklich so wenig adelsstolz und eitel gewesen ist, dass er bis in alle Ewigkeit hinter einem bürgerlichen Pseudonym verschwinden wollte.
Die Debatte wird weitergehen. Vielleicht ist das Geheimnis des Autodidakten Shakespeare aus der Provinz ganz einfach: Eben weil man nichts über ihn weiß, traut man dem Mann aus Stratford alles zu.

Von Urs Jenny

Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand: Edward de Vere, Earl of Oxford. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 2009.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de