Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №4/2010

Sonderthema

Vom Blick in die Seele der Tiere – Der Ethologe Konrad Lorenz

«Wiwiwiwi» – ein zaghafter Ruf, der auch einen gestandenen Verhaltensforscher nicht unberührt lässt. Vor allem, wenn er wie Konrad Lorenz von dem kleinen Graugansküken, das da so einsam ruft, als Mama adoptiert wurde. Auf Schritt und Tritt lief ihm das Federknäuel nach. Auf den ersten Blick mag dies art-untypisch wirken. Doch das Phänomen der Prägung gehörte zu den Kernpunkten der Lorenz’schen Arbeit. Sein halbzahmes Geflügel ermöglichte ihm grundlegende Einsichten: in Schlüsselreize, Leerlaufhandlung und Instinkttheorie. Forschungen, für die der Gänsevater im Jahr 1973 sogar den Nobelpreis erhielt – zusammen mit Nikolaas Tinbergen und Karl von Frisch. Sein Verhalten während des Zweiten Weltkriegs wurde später freilich kontrovers diskutiert ...

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«Graugänse waren mir immer am liebsten.» 29 Tage wacht Konrad Lorenz über seinen Grauganseiern – dann schlüpft das erste Gänsekind: Martina. Martina darf sogar in seinem Schlafzimmer übernachten.
«Meine Frau hat das nicht gestört. Sie arbeitete als Ärztin hauptsächlich im Nachtdienst, um die ganze Menagerie durchzufüttern. Ein Salamander, der sich eben aus einer Larve verwandelt hat, ist wohl eines der bezauberndsten Tierbabys, das man sich vorstellen kann.»
Sein ganzes Haus war voller Raben, Dohlen, Kakadus, Lemuren, Kapuzineraffen und anderer Tiere, die alle frei herumliefen und herumflogen. «Über Tiere habe ich immer mehr gewusst als über meine engsten menschlichen Freunde.» Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der sich selbst als «Tierpsychologe» bezeichnete und den das Magazin «Der Spiegel» einen «Einstein der Tierseele» nannte, zog mit Vorliebe halbzahme Vogelkinder groß. Dabei verlegte er sich ganz aufs Beobachten. Das Experiment war seine Sache weniger. Statt weißen Kittel und Schutzhandschuhe trug Lorenz eine speckige Lederhose, Wollweste und Gummistiefel. Konrad Lorenz war ein unkonventioneller Wissenschaftler – und eine umstrittene öffentliche Figur.

Kapitel eins: Die Ente
«Als ganz junger Bub liebte ich Eulen und war fest entschlossen, eine Eule zu werden. Entscheidend bei dieser Berufswahl war die Überlegung, dass Eulen nicht so früh ins Bett mussten wie ich, sondern während der ganzen Nacht frei umherfliegen durften. Ich lernte schon frühzeitig schwimmen und als ich begriff, dass Eulen nicht schwimmen konnten, sanken sie in meiner Wertschätzung. Noch kaum sechs Jahre alt, war ich von Selma Lagerlöfs Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen tief berührt und wollte Wildgans werden als Berufswahl. Dann bin ich langsam draufgekommen, dass das nicht geht, dann wollte ich wenigstens eine Gans haben. Das durfte ich nicht, weil die Gans im Garten sehr viel anstellt und alles abfrisst. Da habe ich mich mit einer Ente abfinden müssen», erinnert sich Lorenz in der Autobiografie Eigentlich wollte ich Wildgans werden aus dem Jahr 1983.
Zunächst läuft also alles auf Enten hinaus: Im Sommer 1908 zieht der damals fünfjährige Konrad Lorenz seine ersten Entenküken groß – gemeinsam mit Gretl, einem Mädchen aus der Nachbarschaft und seiner zukünftigen Frau. In Altenberg bei Wien waten die Kinder mit ihren Schützlingen durch die seichten Seitenarme der Donau und lernen bald, die verschiedenen Lautäußerungen richtig zuzuordnen. Egal ob es um Hunger, Kälte oder Kontaktbedürfnis geht, Konrad Lorenz wird zu einer feinfühligen «Entenmutter», der von seinen «Entenkindern» vorbehaltlos akzeptiert wird. Das Phänomen der Prägung, das Lorenz in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ausführlich beschreiben wird, geht auf die spielerische Erfahrung zweier Kinder mit halbzahmen Hausenten zurück.
Als Prägung definiert Konrad Lorenz eine irreversible Form des Lernens: In einer relativ kurzen, genetisch festgelegten Zeitspanne werden durch Reize aus der Umwelt die Objekte sozialer Beziehungen unwiderruflich festgelegt. Schlüpft zum Beispiel ein Küken in Obhut des Menschen aus dem Ei, und ist dieser das erste Lebewesen, mit dem es in Kontakt tritt, dann wird das Küken glauben, der Mensch sei seine Mutter und ihm die ganze Kindheit hindurch auf Schritt und Tritt folgen.
Das Verlangen nach mehr Tieren und nach mehr Erkenntnis wächst beständig. Konrad Lorenz studiert erst Medizin, dann Zoologie in Wien. Er heiratet seine Gretl, legt im elterlichen Garten einen Ententeich nach dem anderen an und hält eine Dohlenkolonie auf dem Dachboden. Der weitläufige Altenberger Landsitz des Vaters verwandelt sich Stück für Stück in einen Tierpark. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Lorenz dort sein eigenes Forschungszentrum eröffnen.
Im Rückblick wird Konrad Lorenz behaupten, sich für seine Mitmenschen immer nur in ihrer Eigenschaft als «irgendwie besondere Tiere» interessiert zu haben. Seine Frau Gretl hält ihm trotzdem lebenslang die Treue. Mit ihrer Arbeit als Ärztin finanziert sie den bald sehr kostspieligen, privaten Zoo ihres Mannes und unterstützt seine vergleichenden Tierstudien an Vögeln. Das Haushaltsbudget wird über Gebühr belastet, denn die Anträge auf entsprechende Forschungsstipendien werden fast immer abschlägig beschieden.

Kapitel zwei: Die Gans
«Für die Nacht hatte ich meinem Gänsekind Martina eine wunderbare, elektrisch gewärmte Wiege bereitgestellt. Als ich daran war einzuschlafen, hörte ich, wie Martina ‹Wiwiwiwi› fragte – ‹Hier bin ich, wo bist du?› – mit einer bedrohlichen Beigabe vom Pfeifen des Verlassenseins. Ich musste heraus aus dem Bett. Martina empfing mich beglückt grüßend und wollte kein Ende finden vor Erleichterung: Nach kaum einer Stunde kam aufs Neue das fragende ‹Wiwiwi› und der Vorgang wiederholte sich getreulich. Dann um viertel vor zwölf und um ein Uhr wieder. Um viertel vor drei raffte ich mich zu einer durchgreifenden Veränderung der Versuchsanordnung auf: Ich packte die Wiege und stellte sie in Griffweite neben das Kopfende meines Bettes. Als um halb vier wieder das fragende ‹Hier bin ich, wo bist du?› kam, antwortete ich in gebrochenem Graugänsisch: ‹Gangangang› und klopfte ein wenig auf das Heizkissen. Und ich glaube, ich würde noch heute so antworten, wenn ich fest schlafe und jemand leise zu mir sagte: ‹Wiwiwiwiwi›?», schreibt Lorenz in der Erzählung Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen aus dem Jahr 1949.
Er hat die Tiere nie wirklich draußen untersucht, sondern in seine Nähe geholt. Selbst seine heiß geliebten Graugänse hat er nie direkt vor den Toren Wiens am Neusiedlersee untersucht, wo die Brutkolonien sind. Aber er hat doch immer noch eine Menge gesehen. Er war ihr Kumpan und ist dadurch zu Einsichten gekommen, die man anders nicht kriegen kann.
Konrad Lorenz hat nie Freilandforschung betrieben. Und nicht nur der spätere Lorenz-Schüler, der Zoo­loge und Verhaltensforscher Wolfgang Wickler, hat dies bemängelt. Doch mit Martina, dem berühmtesten Gänsekind aller Zeiten, macht Lorenz Versuche, die bis heute zu den Schlüsselexperimenten der Verhaltensforschung zählen. Gemeinsam mit seinem niederländischen Forscherkollegen und Freund Nikolaas Tinbergen entwickelt Konrad Lorenz in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die sogenannte Instinkttheorie.
Die Instinkttheorie basiert auf der Annahme, dass jede angeborene Aktion eines Tieres aus klar voneinander abgegrenzten, zentral gesteuerten Bewegungsabläufen besteht.
Brütende Graugänse sind beispielsweise ohne Übung fähig, aus dem Nest gerollte Eier mit dem Schnabel in einer für sie typischen Bewegungsabfolge zurückzurollen. Rutscht das Ei seitwärts weg oder wird es vom Versuchsleiter entfernt, läuft die Bewegung auch ohne Ei ins Leere. Ausgelöst wird eine Instinktbewegung durch einen sogenannten Schlüsselreiz – im genannten Beispiel durch den Anblick eines Eis außerhalb des Nests.
Die Tiere in Lorenz’ Graugans-Kolonie erreichen ein stattliches Alter von 20 Jahren und mehr. Ihr Verhalten bei Nahrungssuche, rivalisierenden Kämpfen, Balz, Paarung und Aufzucht der Jungen wird nahezu lückenlos in einer sogenannten Gänsekartei dokumentiert. Lorenz porträtiert seine Lieblinge außerdem mit viel Liebe zum Detail. Und weil Graugänse mit die komplizierteste Sozialstruktur unter den Vögeln aufweisen, sind sie ein äußerst lohnendes Studienobjekt: «Es gibt kaum ein Lebewesen, das in sozialem Verhalten in persönlicher Freundschaft, in ehelicher Liebe und Treue und Untreue, im Verhalten zu Fremden und zu Bekannten, im Verhalten der Eltern zu den Kindern und umgekehrt so weitgehend analog zum Menschen ist, wie das bei den Gänsen der Fall ist.»
In der Natur findet Lorenz das vermeintlich vorbildliche Verhalten, das er sich auch von seinesgleichen wünscht. Doch mit solchen Glaubenssätzen waren die Lorenz’schen Mitarbeiter nicht immer einverstanden. Professor Wolfgang Wickler erinnert sich an die Auseinandersetzung mit einer ehemaligen Mitarbeiterin: «Die Graugans war ja sein Vorbild, besonders deswegen, weil sie lebenslang monogam treu ist. Als die Helga Fischer ihm dann mit seiner eigenen Gänsekartei nachgewiesen hat, wie viele Gänse keine Spur von monogam sind, da kam dann das berühmte: ‹Gänse sind auch bloß Menschen!› Und das ist natürlich eine Todsünde in der Forschung. Er hat damit versucht, das Verhalten zu entschuldigen, statt es zu erklären.»
Geradezu starrsinnig konnte der gutmütige Gänsevater sein, wenn seine Schüler seine Theorien anzweifelten. Aus seinen Tierbeobachtungen hatte Lorenz beispielsweise gefolgert, dass Instinkte sich ähnlich verhalten wie Wasser in einem Leitungsnetz: Das sogenannte «Psychohydraulische Instinktmodell» aus dem Jahr 1937 besagt, dass Instinktbewegungen sich wie Wasser in einem Gefäß aufstauen und sozusagen auch überlaufen können, wenn die entsprechende Handlung ausbleibt. An einem zahmen Star hatte Lorenz beobachtet, dass der von Hand gefütterte und deshalb stets satte Vogel immer wieder aufflog, in der Luft nach nicht vorhandenen Fliegen schnappte und sogar Schluckbewegungen durchführte. Ein solches Verhalten nannte Lorenz Leerlaufhandlung. Sein Instinktmodell gilt heute allerdings als überholt.
Er hat zwar mal gesagt, was ein Wissenschaftler morgens noch als Erstes vor dem Frühstück üben sollte, sei, seine inzwischen nicht mehr haltbaren Überzeugungen über Bord zu schmeißen. Das hat er aber eigentlich nur für andere gesagt.

img1Kapitel drei: Das Hausschwein
«Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist und darf wohl sagen, dass meine ganze wissenschaftliche Lebensarbeit, in der stammesgeschichtliche, rassenkundliche und sozialpsychologische Fragen im Vordergrund stehen, im Dienste des nationalsozialistischen Denkens steht», so der 34-jährige Konrad Lorenz im Antrag auf Mitgliedschaft in die NSDAP.
Man hat ja 1938 noch nicht abgesehen, was das für ein entsetzlicher Weltkrieg wird, und man hat geglaubt, die werden sich schon zivilisieren. Und das ist nicht eingetreten. Aber damals hat er geschrieben, handschriftlich auf diesen Antrag: Ich war schon immer ein begeisterter Nationalsozialist.
Als Hitlers Soldaten im Frühjahr 1938 durch Österreich marschieren, stimmt Konrad Lorenz in den allgemeinen euphorischen Jubel ein und heftet sich schon wenige Wochen später das Hakenkreuz an Revers. Mit dem sogenannten Anschluss an das Deutsche Reich ändert sich der Schwerpunkt der Lorenz’schen Forschung. Fortan arbeitet er über «Ausfälle des Instinktverhaltens bei Haustieren» und scheut nicht davor zurück, seine Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen: Er teilt sie in «voll- und minderwertige» ein und beklagt ihre sogenannte «Verhausschweinung»: Durch das Großstadtleben, so Lorenz, werden die natürlichen Selektionsmechanismen außer Kraft gesetzt, was zu genetischen Verfallserscheinungen führe. Der ehemalige Schüler Wolfgang Wickler: «Verwurzelt war das in seiner übertriebenen Ehrfurcht vor dem Angeborenen. Das war nun wieder typisch Darwin, dass er sah, was aus einem Wildtier werden kann, wenn man es als Haustier hält: um Gotteswillen!!! Und was das für Konsequenzen für das Verhalten haben kann. Da hing für ihn wie immer das Verhalten fest an der Genetik. Das heißt, wenn ich die vermurkse, einen Mops draus mache, statt einen edlen Schäferhund, dann brauche ich mich nicht zu wundern, wenn das Verhalten auch verkorkst wird.»
Mit den Vergleichen zwischen hochgezüchteten Haustieren und Großstadtmenschen, die Lorenz mit Mopskopf und Hängebauch skizziert, verlässt der Gänsevater die vergleichende Verhaltensforschung und betätigt sich – ganz zeitgemäß – als Rassenkundler. Als sogenannter Eugeniker, sprich als Rassenpfleger, interessiert er sich dafür, wie durch entsprechende Zucht der Anteil erwünschter Gene zu vergrößern sei. Von dieser Idee lässt er sich bis zuletzt nicht abbringen.
1940 wird er zum Professor für Psychologie an der philosophischen Fakultät in Königsberg ernannt, doch seine Lehrtätigkeit endet bereits ein Jahr später: Lorenz muss als Soldat zur Wehrmacht und dann als Heerespsychiater ins besetzte Polen. 1944 gerät er in sowjetische Gefangenschaft und kommt erst vier Jahre später zurück nach Österreich. Was genau er in jenen Jahren tut, ist nicht bekannt. In seinen Schriften hat Lorenz seine braune Vergangenheit stets ausgespart. Der österreichische Verhaltensforscher und ehemalige Lorenz-Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt mit einer unverfänglichen, weil unpolitischen Anekdote: «Er war ja in Gefangenschaft sehr umgänglich und hat vielen geholfen. Allein schon dadurch, dass er ihnen gesagt hat: Ihr könnt Eidechsen und Schlangen und solches Kleinzeug ohne Weiteres essen, dann habt ihr Protein. Auch Insekten und Heuschrecken. Das hat vielen geholfen. Er war ja Mediziner und hat sich in diesem Punkt vor nichts gegraust. Die Leute essen ja auch Austern, die sind eigentlich viel grauslicher, schlatzig usw.»
Der 25 Jahre jüngere Eibl-Eibesfeldt, der ebenso wie Lorenz Zoologie in Wien studiert, erinnert sich noch gut an die erste Begegnung mit seinem großen Vorbild, der aus der Gefangenschaft mit einem Käfig und zwei gezähmten Vögeln zurückkam: «Er war mein väterlicher Freund. Ich lernte ihn 1948 kennen. Ich war ja damals junger Student auf der Biologischen Station Wilhelminenberg bei Wien und dann habe ich im Radio gehört, im 10. Heimkehrertransport kommt Konrad Lorenz zurück! Und haben wir sofort Kontakt aufgenommen, und ich durfte ihn führen auf der Station. Da hatte ich gerade einen zahmen, kleinen Dachs, den ich aufgezogen habe und ich erzählte darüber, dass er im Spiel Handlungen von Antrieben abkoppeln kann, sodass er Kampf spielen kann ohne ernst zu beißen. Er macht Spielsignale, verfügt aber über das Kampfrepertoire, greift an, läuft weg und macht das Ganze im Spiel.»
Von dem Dachs war Konrad Lorenz naturgemäß begeistert. Ebenso wie Eibl-Eibesfeldt von Konrad Lorenz. Ein Jahr später, 1949, gründet Lorenz auf seinem Altenberger Anwesen ein «Institut für vergleichende Verhaltensforschung». 1958 entsteht das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen bei Starnberg. Eibl-Eibesfeldt folgt seinem Mentor von Station zu Station. Sein Steckenpferd wird die Verhaltensbiologie des Menschen.

Kapitel vier: Der Mensch
«Nur ein Wesen hat Waffen, die nicht an seinen Körper gewachsen sind, von denen eben deshalb auch der Bauplan seiner Instinkte nichts weiß, und für deren Gebrauch es keine entsprechend machtvolle Hemmung bereit hat. Das ist der Mensch», schreibt Konrad Lorenz in seinem Buch Das sogenannte Böse, erschienen 1963.
Jede Theorie wollte er bis an die äußersten Grenzen tragen und sehen, wie weit die reicht. Wie ein Pferd, das man so lange reiten muss, bis es zusammenbricht. Vorher weiß man nicht, was es leisten kann. Und er hat manches zum Allgemeinprinzip gemacht, was manchmal eher ein Spezialfall war.
Mit seinem populärwissenschaftlichen Buch über das Aggressionsverhalten bei Tier und Mensch wird Lorenz weit über die Grenzen seines Fachgebietes hinaus bekannt. Er trifft den Nerv der Zeit: Das Buch wird zum Beststeller. Ein Teil des Erfolges ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass Lorenz mit seiner Schrift – wenige Jahrzehnte nach dem verschuldeten Weltkrieg – eine kollektive Entlastung anbietet: Aggression stellt er als angeborenes und daher fast unvermeidliches Potential dar. «Das sogenannte Böse», so Lorenz, diene einem höheren Zweck, nämlich dem Fortbestand der Art.
Dass er sich auf das Prinzip der Arterhaltung festgelegt hat und sogar meinte, das mit Darwin stützen zu können, das war ein massiver Fehler. Denn Darwin hat vom Artenwandel gesprochen und nicht von der Arterhaltung. Und dann kann man sich vorstellen, wie eine Unterhaltung zwischen Darwin und Lorenz ausgesehen hätte. Wann Darwin wohl auf den Tisch gehauen und gesagt hätte: Lieber Konrad, das ist doch Unsinn!
Und das fand auch das Magazin «Der Spiegel» und titelte äußerst spöttisch: «Von der Gans aufs Ganze!» Lorenz gab zwar zu, dass seine Thesen nur Behauptungen und alles andere als wissenschaftlich abgesichert seien, dennoch ist Das sogenannte Böse der Auftakt für eine ganze Reihe äußerst erfolgreicher populärwissenschaftlicher Schriften und leitet einen neuen Lebensabschnitt ein. Die vergleichende Verhaltensforschung tritt für Lorenz in den Hintergrund. Zukünftig bringt er sich als Autor und Moralprediger in die öffentliche Diskussion. Das Material, mit dem er seine Thesen unterfüttert, sind im Wesentlichen die Erkenntnisse, die er schon vor dem Krieg, also etwa bis zu seinem 35. Lebensjahr gesammelt hat.
Dass er das Ganze auf den Menschen angewandt hat, lag daran, dass er meinte, letztendlich interessiert nur der Mensch. Und um das zu können, musste er annehmen, dass es in der Natur so vorging, wie er gelernt hatte, dass Gott es wohl so gewollt habe.
Und die Reinhaltung, die moralische Reinhaltung, die hat er ganz hochgehalten. Deswegen war er ja so empört, dass in der Natur das gar nicht so ging, wie er wollte. Wenn der Mensch sich wirklich die Natur zum Vorbild nähme: na dann, Mahlzeit!
Das Jahr 1973 wird zum Höhepunkt in Konrad Lorenz’ Karriere: Gemeinsam mit dem Zoologen Karl von Frisch und dem Verhaltensforscher Nikolaas Tinbergen wird ihm «für Entdeckungen zur Organisation und Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern» der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin verliehen. Der inzwischen 70-Jährige übergibt den Direktorenposten des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen an Wolfgang Wickler. Der Lorenz-Kritiker führt die Arbeit bis zur Schließung des Instituts im Jahr 1999 fort.
Übrigens: Mit dem Nobelpreis-Geld hat sich Konrad Lorenz einen lang gehegten Wunsch erfüllt: ein riesiges Salzwasser-Aquarium. Was er da machte, war, ein Korallenriff nachzubauen. Nach ein paar Schnorchelgängen in Hawaii hatte er ein Faible für die bunte Welt entdeckt. Und statt selber immer wieder hinzufahren, holte er sie sich ins Wohnzimmer. So wie das bei ihm üblich war.
In den 70/80er Jahren spielte im Leben von Konrad Lorenz nicht nur die Forschung eine wichtige Rolle, er engagierte sich auch für den Umweltschutz. Lorenz betätigte sich zu dieser Zeit als Autor und ökologischer Moralprediger.
Seine Bekanntheit steigerte sich 1978, als Konrad Lorenz unmittelbar vor seinem 75. Geburtstag zur Galionsfigur der erfolgreichen österreichischen Volksabstimmung gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf wurde. 1985 wurde er zu dem Namensgeber des «Konrad-Lorenz-Volksbegehrens» gegen den Bau eines Wasserkraftwerks im Landschaftsschutzgebiet der Hainburger Auen. 1988 erschien dann sein letztes großes Werk Hier bin ich – wo bist du?, eine genaue ethologische Beschreibung von Graugänsen als Zusammenschau von rund 60 Jahren intensiver Verhaltensbeobachtung.
Am 27. Februar 1989 verstarb Konrad Lorenz in Wien.

Autorin: Prisca Straub
Redaktion: Bernhard Kastner
© Bayerischer Rundfunk

Der Text ist entnommen aus:
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