Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №22/2009

Das liest man in Deutschland

Wortjogging und Yesterday

Irina Korschunows Roman «Langsamer Abschied» ist so lesenswert wie ihre bisherigen Bücher auch

Ist Kranken- und Altenpflege ein notwendiges und wichtiges Thema in der Gesellschaft von heute? Keine Frage. Es ist wichtig. Gesellschaftlich und sozial und – vor allen Dingen nicht erst seit heute. Früher oder später kommt jeder von uns damit in Berührung. Die Jüngeren, weil sie es sich vermehrt zum Beruf machen, die reiferen Jahrgänge aus persönlicher leidvoller Erfahrung.
Und in der Literatur? Beim Bachmannpreis 2007 zum Beispiel versuchte ein junger Autor namens Björn Kern, seine Erfahrung als Altenpfleger literarisch zu verwerten. Es ging schief. Mit Recht, denn eines darf man nicht vergessen: Ein gesellschaftlich relevanter Stoff allein ist noch keine Literatur. Seine literarische Umsetzung jedoch ist unerlässlich. Und hier lauert die Gefahr, entweder in Pathos und falsche Perspektiven abzugleiten wie Björn Kern, oder unglaubwürdig zu bleiben durch bewusst gehaltene Sachlichkeit. Im ersten Fall ist Kitsch das Ergebnis, im zweiten eher ein Bericht als Literatur.
Der neue Roman von Irina Korschunow, Langsamer Abschied, deutet schon im Titel den Inhalt an: Liebe, Schmerz und Abschied. Die Geschichte von Nora und Pierre beginnt in den 1960er Jahren. Pierre studiert Halbleiterphysik, Nora Kunstgeschichte. Er nennt ihr Studium «Noras Orchideenfach», sie möchte beruflich ernst genommen werden. Als Pierre infolge eines schweren Autounfalls zum permanenten Pflegefall wird, sind die beiden bereits siebzehn Jahre verheiratet und führten bis dahin das, was man ein normales Eheleben nennt.
«Ich wollte dort sein, wo wir hingehörten, wir beide, Pierre und Nora, wo wir uns trafen am Ende des Tages, gemeinsam aßen und tranken, redeten. Pläne machten und verwarfen, uns stritten, vertrugen, einschliefen und wach wurden. Unser Leben»: Studium, Aufbau zweier Karrieren, Umzug ins eigene Haus, irgendwann Warten auf Nachwuchs, der sich nicht einstellt. Und dazwischen die Probleme und Reibereien, die zu einer Beziehung gehören. Eifersucht, Streit, Seitensprung, uneheliches Kind. Sicherlich ist das ein Leben mit einigem Wiedererkennungswert für manchen Leser. Was sich natürlich keiner wünschen wird, ist Noras Leid, den Mann im Alter von knapp vierzig Jahren an ein Wachkoma zu verlieren, aus dem ihn nur der Tod erlösen kann.
Nora ist es, die uns ihre Geschichte zu erzählen beginnt, nachdem sie am Grab gestanden und sich mit anderen Trauergästen von Pierre verabschiedet hat. Sein Bild in ihrer Hand bringt wie durch einen Filmschnitt den Erzählfluss in Gang: «Ich sehe ihn an, die dunklen Augen, das lachende Gesicht, und die Zeit beginnt sich zu drehen, zurück ins Damals vor zwanzig Jahren.» Wir folgen ihr ab hier durch die knapp 160 Seiten abwechselnder Erinnerung an die Zeit vor und nach dem Unfall.
Sie sei Kinderbuchautorin, eine Verfasserin von Jugendbüchern, die auch als Schriftstellerin von Romanen für Erwachsene Beachtung findet – so etwa lauten die kategorisierenden Schlagworte der Literaturkritik über Irina Korschunow. Der Zusatz «auch» rückt die Gewichtung unwillkürlich in Richtung Kinderbücher, was ihrem Werk nicht ganz gerecht wird. Die Autorin selbst hält wenig von derlei «säuberlichem Kästchendenken», wie sie es selbst lachend nennt. Im Jahr 2004 bekam sie als Würdigung ihres Lebenswerks den Hertha-Koenig-Literaturpreis, der damals erstmalig verliehen wurde. Zu diesem Lebenswerk gehören neben dem hier besprochenen Buch Romane wie Glück hat seinen Preis, Fallschirmseide oder Ebbe und Flut.
In den erwähnten Titeln begegnet einem zuverlässig der Korschunow-Stil: bedächtige Sprache, wenig Ausschmückung, selten emotionale Ausschweifung. Der Ton unprätentiös, fließend, stellenweise lakonisch. Fast spürt man den vehementen Willen der Autorin, jeden Anflug von Sentimentalität zu verwischen. Für den Leser ist das angenehm, weil er nicht in fremde Befindlichkeiten hineingezogen wird. Man kennt das: Als zufälliger Zeuge eines Trauerzugs kann man sich angesichts aufgelöster Mienen nur schwer einer widerwilligen Betroffenheit entziehen.
Irina Korschunow erspart es uns bereits auf der ersten Seite: «Nun also soll Pierre begraben werden», stellt sie fest, als wäre das Begräbnis eine Besorgung, die erledigt werden muss. Einige Sätze weiter ertönt aus dem Off Pierres Stimme, seinen letzten Wunsch genauso unpathetisch verkündend: «Für mich bitte kein Tamtam, nur die grüne Wiese und eine Gitarre mit Yesterday.» Na also, Pierre wollte es nicht anders. Aber Nora, kann sie auch gefühllos sein?
Natürlich kann sie es nicht. Genau so wenig, wie die Autorin. Wenn Nora später, am offenen Grab, sich selbst das Weinen verbietet («Nur nicht weinen, nicht vor der versammelten Gemeinde»), keimt darin metaphorisch Irina Korschunows Bemühen auf, dem heiklen Thema von Krankheit und Tod durch Distanz Gewicht zu geben. Mit dem Risiko, den Leser damit so fern zu halten, dass er unbeteiligt bleibt.
Nur selten erlaubt die Autorin ihren Figuren einen Gefühlsausbruch. Leidenschaftlich etwa bei Nora, deren Hadern mit dem Schicksal ungewohnt inbrünstig klingt, und das Gemüt des Lesers endlich auf- und mitgehen lässt: «Es machte mich verrückt, daran zu denken, an das, was gewesen war und nie wieder sein würde, nur das Bett noch und der gelbe Chintz, aber nie wieder Pierre und ich, nie wieder, nie wieder.»
Blickt man auf das Werk von Irina Korschunow, so wird man unwillkürlich an Erich Kästner erinnert. Der Vergleich hinkt zwar ein wenig, denn Kästner, als Satiriker großartig und als Kinderbuchautor unvergessen, hat sich an Romanen nur mittelmäßig versucht. Irina Korschunow hingegen hat dieses Genre bisher mehrfach erfolgreich bedient. Und trotzdem stellt sich die Frage: Kann sich eine Autorin, die so gekonnt in Kinderherzen schaut, dem «kindlichen» Einfluss entziehen, und ihren Stil zusammen mit dem Sujet erwachsen werden lassen?
Im Falle Irina Korschunows ist dies zu bejahen. Zeithistorische Themen wie das Wirtschaftswunder der Fünfziger Jahre in Fallschirmseide oder Familiengeschichte in Glück hat seinen Preis überzeugen durch Harmonie von Inhalt und Form. Nicht ganz so maßgeschneidert scheint das literarische Stilkleid dem vorliegenden Roman zu sitzen. Die Ursache liegt vielleicht in der Verlagerung der Landschaft und ihrer Spiegelung durch die Menschen. Es ist in den vorhergehenden Büchern eine Gesellschafts- und Kulturlandschaft, eingebettet in die jeweils historische Epoche. Die Figuren müssen sich darin erst ihren Platz erobern und danach verteidigen. Im Langsamen Abschied aber finden wir vorwiegend eine Seelenlandschaft vor, Noras innere Gefühlswelt, die aus den Fugen gerät.
Es geht nicht mehr um Aufstieg und Erfolg eines Unternehmens, auch nicht primär um Familie und Kinder oder um den Platz der Frau innerhalb ihres sozialen Umfelds. Vielmehr ersetzen nun Gefühle wie Ohnmacht, Gewissensbisse, Schuld, Zorn und Angst in weiten Teilen die Handlung. Für die Autorin eine Herausforderung, die sie mit kleinen Ausnahmen meistert. Denn an manchen Stellen hat man den Eindruck, dass die Vermeidung jeglicher Larmoyanz nur auf Kosten von Noras Gefühlswelt möglich ist, die durch diese sprachliche Unterkühlung gleich mit eingefroren wird. Ihre Formulierungen sind dann so klar und eindeutig, dass kein Raum zwischen den Zeilen bleibt. Kein Platz für Zweifel, Fragen, Staunen oder Zögern des Lesers.
Hin und wieder wird die Textur des Stilgewebes fadenscheinig. Dann nämlich, wenn Klischeehaftes sich als bewährtes Gefüge dem Leser leicht anbietet, aber zum Schaden des Textes insgesamt auch anbiedert. «Die alte Uhr in der Diele schlug zehn. Zehn helle, silberne Schläge», «wenn wir irgendwann den Schlüssel abgeben mussten». Solchen Sätzen geht man bei oberflächlicher Lektüre zwar gern auf den Leim, bei näherem Betrachten aber stören sie.
Und warum? Weil der Roman lesenswert ist, wie die übrigen Bücher von Irina Korschunow auch. Weil man reich entschädigt wird, durch «Brainjogging» und «Wortjogging» oder durch Bilder, die sich einprägen, «Bilder von zertrümmerten Wirbelsäulen an den Wänden und Sonnenkringel auf dem Teppichboden».

Von Dorothea Gilde

Irina Korschunow: Langsamer Abschied. Roman. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag, 2009.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de