Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №23/2009

Das liest man in Deutschland

Daniel Stein, Übersetzer

Ljudmila Ulitzkaja schreibt die außergewöhnliche Lebensgeschichte eines jüdischen Katholiken.

Im russischen Original trägt Ljudmila Ulitzkajas neues Buch nach dem Titel einen Zusatz, der die gleichnamige Hauptgestalt des Romans näher charakterisiert: Daniel Stein, Übersetzer. Das kann zunächst ganz wörtlich verstanden werden, denn Daniel Stein war in den Wirren1 des Zweiten Weltkriegs unter dramatischen Umständen zwischen die Fronten geraten und hat als sprachkundiger junger Mann, und unter Geheimhaltung seiner jüdischen Identität für verschiedene Seiten Übersetzerdienste geleistet, um sein eigenes Überleben zu garantieren. Nach dem Krieg wirkte Stein aber auch im übertragenen Sinn als Vermittler, indem er sich für die Verständigung zwischen den Religionen und den Menschen einsetzte.
Ljudmila Ulitzkaja zeichnet in ihrem Roman das Porträt eines außergewöhnlichen Menschen vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts mit all seinen Ideologien und von Menschen herbeigeführten Katastrophen. Daniel Stein stammt aus dem östlichen Polen, einem Landstrich2, der immer wieder anderen Herrschern untertan3 war. Kaum bricht der Krieg aus, findet sich Daniel Stein auf der Flucht wieder: Über Litauen will er sich nach Palästina durchschlagen. Unterwegs muss er sich von den Eltern trennen – sie werden den Krieg nicht überleben –, später auch vom Bruder, den er erst 20 Jahre später in Palästina wieder sehen wird. Auf wundersame Weise entgeht Stein in der Folge mehrmals dem Tod – und muss dafür bald den Deutschen, dann den Russen dienen. Es gelingt Stein dank seiner Sprachkenntnisse, sich als deutschen Polen auszugeben. Seine Tätigkeit als Übersetzer für die mit den Nazis verbündete weißrussische Polizei verschafft ihm immerhin einen privilegierten Zugang zu Informationen: Daniel Stein nutzt dies, um mehrere hundert seiner Glaubensgenossen zu warnen und sie damit vor der Vernichtung zu retten. Stein droht nun allerdings die Enttarnung, doch schafft er es erneut zu fliehen. Ein Nonnenkloster gewährt ihm daraufhin monatelang Unterschlupf. Hier nun findet ein weiteres Schlüsselereignis seines Lebens statt: Stein tritt nach einem Erweckungserlebnis zum Katholizismus über. Die Jahre nach dem Krieg zeigen uns Daniel Stein zunächst als Mönch in einem Karmeliterkloster unweit von Krakau. 1959 beschließt er, nach Palästina auszureisen. Damit beginnt noch einmal eine neue Etappe in seinem Leben: Stein baut in Haifa eine christliche Gemeinde auf und träumt davon, zu jenem Urchristentum zurückzukehren, das noch keine eigentliche Trennung vom Judentum kannte. Vater Daniel betätigt sich in Palästina im allgemeinen Sinn als Übersetzer zwischen den Religionen; zugleich führt er als sprachgewandter und überaus kundiger Reiseleiter Gruppen von Touristen durchs Land.
Ljudmila Ulitzkaja hat Daniel Stein nach einem historischen Vorbild entworfen: Seine bemerkenswerte Lebensgeschichte deckt sich in den wesentlichen Punkten mit derjenigen von Oswald Rufeisen (1922–1998), den Ulitzkaja persönlich kennengelernt hat. Der Autorin geht es aber nicht in erster Linie um die historische Wahrheit, sondern um «literarische Wahrhaftigkeit», wie sie im Vorwort schreibt. Für das Verständnis des Buches ist es allerdings letztlich kaum von Bedeutung, welche Elemente historisch verbürgt sind und welche von der Autorin erfunden.
Daniel Stein wird von Ulitzkaja keineswegs als ein Heiliger dargestellt. Er ist durchaus auch eine problematische Gestalt, kann mitunter im Zorn aufbrausen4, und seine Ansichten sind manchmal angreifbar. Ulitzkaja stellt jedoch vor allem das alltägliche Wirken Steins in den Vordergrund, der sich unermüdlich für das gegenseitige Verständnis zwischen den Menschen einsetzt. Ein Jude, der zum katholischen Priester wird, ist aber weder den israelischen Behörden noch den Vertretern der beiden Religionen ganz geheuer. Keine Partei kann Stein wirklich für sich verbuchen. Daniel Stein äußert zudem hie und da Meinungen, die dem Heiligen Stuhl in Rom nicht gerade genehm sind. Auf der anderen Seite hat er auch seine liebe Not mit dem israelischen Staat: Dieser verweigert ihm nämlich die Staatsbürgerschaft, weil er kein richtiger Jude sei.
Daniel Stein ist vielleicht gerade aufgrund der differenziert gezeichneten Hauptfigur ein zutiefst humaner Roman geworden, der bemüht ist, den einzelnen Menschen und verschiedenen Religionen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hier werden keine einfachen Ansichten vertreten oder simplen Lösungen gefordert. Davor schützt allein schon die komplexe Biografie Daniel Steins.
Ljudmila Ulitzkaja ist mit Daniel Stein zweifelsohne ihr bisher bedeutendstes Buch gelungen. Zwar hat die russische Schriftstellerin schon in früheren Romanen ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, Biografien gerade über das Geflecht von Beziehungen zwischen verschiedenen Menschen lebendig und glaubwürdig zu gestalten. In Daniel Stein aber erweitert die Autorin die «private» Lebensgeschichte um einen komplexen historischen Hintergrund, der die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, aber auch die Weltreligionen aufnimmt und eindrücklich verarbeitet. Ulitzkaja erreicht dies, indem sie in einer Collagetechnik zahlreiche Menschen zu Wort kommen lässt, deren Biografien sich irgendwann mit Daniel Stein gekreuzt haben: Ihre Briefe, Tonbandaufnahmen und persönlichen Aufzeichnungen, aber auch Daniel Steins Vorträge vor deutschen Schülern in den 1990er Jahren, verschiedene Bekanntmachungen und manches mehr formen das Bild der Hauptfigur aus einer Vielzahl von Perspektiven. Dabei gelangen durchaus auch unterschiedliche Einstellungen zu seiner Person zum Ausdruck. Ulitzkaja baut ihren Roman nicht chronologisch auf. Es zeugt um so mehr von ihrer literarischen Meisterschaft, wenn der Text dadurch nicht auseinanderfällt, sondern, im Gegenteil, nach und nach das Mosaik ergänzt: die erstaunliche Geschichte des jüdischen Katholiken Daniel Stein, Übersetzer.

Von Daniel Henseler

Ljudmila Ulitzkaja: Daniel Stein. Roman. Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. München: Carl Hanser Verlag, 2009.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de

 

1 Wir|re, die; -, -n: 1. <Pl.:> 1. Unruhen; ungeordnete politische, gesellschaftliche Verhältnisse: das Land war durch innere -n bedroht; in den -n der Nachkriegszeit. 2. <o. Pl.> (geh. veraltet) Verworrenheit eines Geschehens o. Ä.

2 Land|strich, der: Bereich innerhalb eines größeren Gebietes, einer Landschaft; Gegend: ein bewaldeter L.

3 un|ter|tan <Adj.> [mhd. undertan, ahd. untartan = unterjocht, verpflichtet, eigtl. adj. 2. Part. von mhd. undertuon, ahd. untartuon = unterwerfen]: in den Wendungen sich, einer Sache jmdn., etw. u. machen (geh.; jmdn., etw. seinen Zwecken unterwerfen, beherrschen): sich die Natur u. machen; jmdm., einer Sache u. sein (veraltend; von jmdm., etw. abhängig, jmdm., etw. unterworfen sein).

4 auf|brau|sen <sw. V.; ist>: zornig auf-, hochfahren: schnell, leicht a.; er ist immer gleich aufgebraust; ein aufbrausendes (cholerisches) Temperament.