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Sonderthema

Stefan Zweig
Leben und Werk

Man kann das Unsichtbare nicht besiegen! Man kann Menschen töten, aber nicht den Gott, der in ihnen lebt. Man kann ein Volk bezwingen, doch nie seinen Geist.

Stefan Zweig

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Stefan Zweig

Stefan Zweig wird am 28. November 1881 als zweiter Sohn des jüdischen Fabrikanten Moritz Zweig und dessen Frau Ida in Wien geboren. Die große materielle Sicherheit der Familie, die sich erst mit dem Kriegsbeginn 1914 unvermittelt als «Traumschloss» erweisen sollte, eine breit angelegte Bildung und das künstlerisch-intellektuell anregende Klima des Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts prägen seine Jugend.
Weniger der als «Tretmühle» empfundene Schulunterricht, der «auf hölzerner Bank durchgesessen werden» musste, als vielmehr die «Stadt mit Theatern, Museen, Buchhandlungen, Universität, Musik, wo jeder Tag andere Überraschungen brachte» sowie die Tatsache, dass er «zufällig in einen Jahrgang für die Kunst fanatisierter Kameraden geriet», entfacht in dem Heranwachsenden eine produktive Leidenschaft, die er noch ein Jahr vor seinem Tode als den «Kern eines ganzen Lebens» bezeichnen kann. Die sich mittlerweile immer deutlicher abzeichnenden Veränderungen der politischen Großwetterlage, das Entstehen der Massenbewegungen, die krisenhafte Suche nach neuen Ordnungen nimmt Zweig demgegenüber nur am Rande wahr: «Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat: wir blickten nur auf Bücher und Bilder. Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuteten diese grellen Zänkereien in unserem Leben?» Was der 60-jährige Verfasser in der Autobio­grafie Die Welt von Gestern nicht ohne tadelnden Unterton vermerkt, nämlich eine gewisse politische Abstinenz des Heran­wachsenden, die ihn verkennen ließ, dass «mit dem neuen Jahrhundert zugleich der Untergang der individuellen Freiheit in Europa begonnen hatte», sollte trotz der geäußerten Kritik im Grunde typisch für das Leben Stefan Zweigs werden und bleiben. Noch der Verfasser des Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam ist 1934 «voller Sehnsucht, einmal wieder ganz still zu leben und nichts Politisches zu hören», und sieht sich, «obwohl klarer den Widersinn der Zeit verstehend als die professionellen Weltverbesserer, tragischerweise doch nicht imstande, mit all seiner Vernunft ihm entgegenzutreten».
Im Jahre 1900 beginnt Zweig an der Wiener Universität sein Studium der Philosophie, bei dem «alles, was nottat, war, am Ende des achten Semesters eine Dissertation einzureichen und einige Prüfungen zu machen». So bedeutete das Studium für ihn faktisch «ein paar Jahre voller Freiheit für mein Leben und die Bemühung in der Kunst». 1901 erschien der erste Gedichtband Zweigs mit dem Titel Silberne Saiten, der freundliche Aufnahme fand, von dem sich der Verfasser jedoch in späterer Zeit nachhaltig distanzierte.
Zu früher Bekanntheit bringt es der Zwanzigjährige durch Publikation einiger Artikel, Novellen und Essays in der «Neuen Freien Presse» in Wien. Im Jahre 1902 setzt Zweig sein Studium in Berlin fort. Hier konzentriert er sich eine Zeitlang darauf, Übersetzungen von Gedichten und Novellen aus anderen Sprachen anzufertigen, wobei die Werke von Verlaine, später die des Belgiers Verhaeren eine dominierende Rolle spielen. In dieser wichtigen Funktion, Künstler ausländischer Herkunft für den deutschen Sprachraum zu erschließen, empfindet er «zum erstenmal die Sicherheit, etwas wirklich Sinnvolles zu tun». 1904 erscheinen Ausgewählte Gedichte Verhaerens, später, 1910, dann Zweigs Monographie Émile Verhaeren und zwei Bände von Übersetzungen seiner Werke.
Das Studium schließt Stefan Zweig 1904 in Wien ab («jetzt hieß es, den ganzen scholastischen Stoff aufzuarbeiten, an dem die solideren Studenten fast vier Jahre gewürgt») und promoviert mit der Dissertation Die Philosophie des Hippolyte Taine zum Dr. phil. In dieser Arbeit nimmt er eine erste Weichenstellung für sein eigenes Geschichtsverständnis vor, das seine späteren historischen Miniaturen und Biografien bestimmen wird: Die Geschichte bediene sich gerade des Individuums, indem sie so die Idee der geistigen Freiheit verwirklichen und ihr Ziel erreichen könne.
Auf das Studium folgt eine durch elterliche Unterstützung wie durch erste namhafte Honorare finanzierte längere Reisetätigkeit Zweigs, in der er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges den größten Teil Europas kennenlernt und so nach eigener Aussage «allmählich Europäer geworden» ist. Das in der Welt von Gestern begeistert geschilderte, lebensfrohe Paris und das zunächst wenig geliebte, «umdüsterte» London werden je für längere Zeit seine Aufenthaltsorte.
Begegnungen mit Verhaeren, Rodin und auch Hesse prägen ihn in dieser Zeit. Er nimmt sich ein Vorbild an diesen Künstlern, die «sich ihrer menschlichen Verantwortung so ganz bewusst waren». 1906 erscheint der zweite Gedichtband Die frühen Kränze, Zweigs erstes im Insel-Verlag publiziertes Werk.
Zweig führt in dieser Phase «eher das Leben eines Journalisten als das eines Schriftstellers». Angeregt durch Walther Rathenau, dessen Denkschärfe und Universalität ihn anlässlich einer persönlichen Begegnung stark beeindrucken, unternimmt er 1908/1909 eine Fernostreise, auf der ihm erstmals die «Pest des Rassenreinheitswahns, der unserer Welt verhängnisvoller geworden ist als die wirkliche Pest in früheren Jahrhunderten», begegnet. 1911 lässt Zweig seiner ersten Überseereise eine zweite, diesmal nach Amerika, folgen. Beide Überseereisen führen zu einer erheblichen Erweiterung seines Horizonts, insofern der Europäer Stefan Zweig nun beginnt, «manches Kleinliche, das mich früher über Gebühr beschäftigt hatte, nach meiner Rückkehr als kleinlich anzusehen und unser Europa längst nicht mehr als die ewige Achse unseres Weltalls zu betrachten» und dadurch zugleich mit einer «neuen, wissenderen Freude auf unser Europa zu blicken».
In die Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Weltkrieges, deren optimistische Stimmung Zweig in der Welt von Gestern so eindrucksvoll schildert, fallen Arbeiten zu Dostojewski, die Uraufführungen der Dramen Der verwandelte Komödiant und Das Haus am Meer sowie die Novellen Mondscheingasse und Brennendes Geheimnis. In diese Zeit gehört der Beginn der Freundschaft mit Romain Rolland, die «neben einer mit Freud und Verhaeren die fruchtbarste und in manchen Stunden sogar wegentscheidende meines Lebens war», und auch der Anfang der Liebesbeziehung mit der unglücklich verheirateten Friderike Maria von Winternitz, die Stefan Zweig dann 1920 heiraten sollte.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hält Zweig sich bei Verhaeren in Belgien auf und begibt sich auf die Nachricht vom Ausbruch des Krieges hin sogleich nach Wien zurück. Der Eindruck, den er in der Welt von Gestern erweckt, dass er dem Rausch des Patriotismus zu keinem Zeitpunkt erlegen sei, entspricht allerdings nicht ganz den Tatsachen. Zum Propaganda­dienst im Kriegsarchiv herangezogen, scheint sich erst im Jahre 1915 seine Haltung dem Krieg gegenüber entscheidend geändert zu haben («es war der Krieg einer ahnungslosen Generation...»), da er als Sonderbeauftragter des Archivs Galizien bereist und die entsetzlichen Folgen des Krieges plötzlich mit eigenen Augen sieht.
Daraufhin beginnt Zweig mit den Arbeiten zu seinem wohl wichtigsten Drama, dem 1917 fertiggestellten und 1918 in Zürich uraufgeführten Jeremias, den er noch in der Welt von Gestern sein «persönlichstes, privatestes Werk neben dem Erasmus» nennt. Es handelt sich beim Jeremias um eine Tragödie, die nicht primär pazifistisch orientiert ist, sondern in der er vielmehr «die seelische Superiorität des Besiegten» eindrucksvoll aufzuzeigen versteht. Es geht ihm darum, «dass derjenige, der als der Schwache, der Ängstliche in der Zeit der Begeisterung verachtet wird, in der Stunde der Niederlage sich meist als der Einzige erweist, der sie nicht nur erträgt, sondern sie bemeistert». Die Wahl eines biblischen Themas bedeutet für ihn ferner die neue Auseinandersetzung mit der Geschichte des jüdischen Schicksals, mit dem er sich «im Blut oder in der Tradition dunkel begründeter Gemeinschaft» verbunden sieht und das er jetzt als «sein Volk» wiederentdeckt. Am jüdischen Volk fasziniert ihn nun die Fähigkeit, dass es das «Unterliegen unter der Gewalt bejaht und sogar als einen Weg zu Gott gesegnet» hat. Die Arbeit am Jeremias hat für den Stefan Zweig der Jahre 1916 und 1917 durchaus auch eine therapeutische Komponente: «Von dem Augenblicke, da ich versuchte, sie zu gestalten, litt ich nicht mehr so schwer an der Tragödie der Zeit.»
1917/1918 hält Zweig sich wiederholt in der Schweiz, vornehmlich in Genf und Zürich, auf und trifft mit Hermann Hesse, James Joyce u. a. zusammen. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrt Stefan Zweig nach Österreich zurück, «das doch nur noch als ein ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte». Als Beweggrund hierfür gibt er in der Welt von Gestern die Verantwortung an, die er – gerade als Autor des Jeremias – spürte: «Man müsste eigentlich mithelfen durch sein Wort, die Niederlage zu überwinden.» Er zieht mit Friderike von Winternitz in das bereits 1916 erworbene Haus am Kapuzinerberg in Salzburg, sein «Haus am Hügel», das zwanzig Jahre lang Zentrum seines Lebens und Arbeitens sein sollte, von dem aus freilich auch der Blick hinüber auf den Salzberg bei Berchtesgaden fiel, «wo ein damals völlig unbekannter Mann namens Adolf Hitler mir bald gegenüber wohnen sollte».
Es erscheint die von ihm eingeleitete und revidierte Übersetzung von Rousseaus Emil oder die Erziehung bei Kiepenheuer in Potsdam, die Essay-Sammlung Drei Meister (Balzac, Dickens, Dostojewski) als erster Teil der Baumeister der Welt im Insel-Verlag sowie weitere biografische Skizzen und Erzählungen. Spätestens seit jetzt gilt Zweigs literarische Hauptaufmerksamkeit dem Genre der biografischen Skizze und der Biografie. 1925 folgt dann der zweite Band aus der Reihe Baumeister der Welt unter dem Titel Der Kampf mit dem Dämon (Hölderlin, Kleist, Nietzsche). Immer wieder unternimmt Zweig in dieser Zeit Reisen nach Italien und vor allem nach Frankreich. In dieser Phase stellt sich je länger je mehr ein großer literarischer Erfolg ein, den der stets von «fast pathologischen Selbstmisstrauen» geplagte Zweig so niemals erwartet hat. Die Novellen Amok und Brief einer Unbekannten sowie der Novellenband Verwirrung der Gefühle (1927) werden «populär wie sonst nur Romane». Ebenfalls im Jahre 1927 bringt es die unter dem Titel Sternstunden der Menschheit erschienene, «in allen Schulen gelesene» Sammlung von fünf historischen Miniaturen auf eine Auflage von 250 000 Exemplaren. In wenigen Jahren hat sich Stefan Zweig, wie er selbst nicht ohne Verwunderung vermerkt, eine Gemeinde geschaffen, «eine verlässliche Gruppe von Menschen, die jedes neue Buch erwartete, jedes neue Buch kaufte, die einem vertraute, und deren Vertrauen man nicht enttäuschen durfte». Seit Mitte der 20er Jahre sind in Deutschland von jedem Werk, das Zweig veröffentlichte, schon am ersten Tage 20 000 Exemplare ver­kauft. Zweig wird nun auch übersetzt und im Ausland verlegt und ist zu seiner Zeit der meistübersetzte Autor der Welt.

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Zweigs erste Frau

1928 erscheint als dritter Band der Baumeister der Welt das Büchlein Dichter ihres Lebens (Casanova, Stendhal, Tolstoj). Noch im selben Jahre unternimmt der «das Politische und Dogmatische im Tiefsten verabscheuende» Stefan Zweig eine ihn außerordentlich stark beeindruckende, als sehr ambivalent erlebte Reise nach Sowjetrussland anlässlich der Hundertjahrfeier Tolstojs. Bei dieser Reise begegnet er Maxim Gorki erstmals persönlich.
1929 legt Zweig die erste seiner großen Biografien vor, Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen. Auch wenn Zweig später sagen wird, er habe dieses Buch zu seinem «privaten Vergnügen» geschrieben, verfolgt er damit doch einen tiefer gehenden Zweck: Mit dem Fouché entsteht nicht nur eine beeindruckende Charakterstudie und ein präzises Zeitbild der napoleonischen Ära, sondern auch eine klare Mahnung für die Gegenwart: «Es soll das Gefährliche in bildnerischer Form andeuten, das der ‹brauchbare›, der geriebene Politiker für alle Nationen und Europa bedeutet», schreibt Zweig an Emil Ludwig. Schon im Joseph Fouché liegt also deutlich eine zweifache Ausrichtung vor, mit der Zweig einerseits mit erzählerischer Meisterschaft die historisch-biografische Rekonstruktion durchführt, andererseits diese aber auf Grundsätzliches zurückführt und so Konstellationen seiner Gegenwart kritisch beleuchtet: Fouché ist für ihn derjenige Politiker, «der jeder Überzeugung dient, jeden Posten annimmt, in allen Sätteln sitzt und nie eine eigene Idee hat und die gewaltigsten Menschen seiner Zeit eben durch diese Flexibilität überdauert». Indem Stefan Zweig wenige Jahre vor Beginn der Nazi-Herrschaft eine Biografie über eine Gestalt der Geschichte schreibt, die für ihn wie vielleicht kaum eine andere den «politischen Nichtcharakter» repräsentiert, stellt er unübersehbar eine Warntafel für seine Gegenwart auf.
1930–1932 hält sich Zweig diverse Male in Italien und Frankreich auf. Es folgt eine neue Essay-Trilogie unter dem Titel Die Heilung durch den Geist, die Miniaturen zu Anton Mesmer, Mary Baker-Eddy und dem von Zweig besonders geschätzten Sigmund Freud enthält. Im Jahre 1932 erscheint auch die zweite seiner großen Biografien: Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters. Diese Arbeit wird Zweigs größter literarischer Erfolg. In der spannend und in mitreißendem Tempo geschriebenen Darstellung zeigt sich Zweigs Meisterschaft der «Kondensierung» oder des «Verzichtenkönnens», wie er selbst den Prozess des Verdichtens der inneren Architektur eines Buches nannte. Trotz der strengen Orientierung an den verfügbaren Quellen, für die Albert Schweitzer Zweig großes Lob zollte, ist die Marie Antoinette stärker als Zweigs bisherige historisch-biografische Texte mit romanhaften Zügen durchsetzt, während wiederum, anders als beim Joseph Fouché, die Signale für die Gegenwart eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Die Marie Antoinette war schon Ende des Jahres 1932 in vierzehn Sprachen übersetzt und wurde im Februar 1933 in den USA zum Buch des Monats gekürt.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten Anfang 1933 hat Stefan Zweig mit Sorge hinsichtlich der bevorstehenden Einschränkungen der Freiheit seiner Arbeit durch die neuen Machthaber («dass wir freien und unabhängigen Schriftsteller gewisse Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten, Feindseligkeiten zu erwarten hätten, war von vorneweg klar») erlebt, ohne dabei die insgesamt politisch katastrophalen Folgen schon hinreichend einschätzen zu können: In der Welt von Gestern bekennt er, «dass wir alle 1933 und noch 1934 in Deutschland und Österreich jedesmal nicht ein Hundertstel, nicht ein Tausendstel dessen für möglich gehalten haben, was dann immer wenige Wochen später über uns hereinbrechen sollte».
Noch im Jahr 1933 werden die Bücher Zweigs Opfer der Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten. Nicht ohne Stolz vermerkt Zweig im Rückblick, er habe es als Ehre empfunden, dieses Schicksal völliger literarischer Existenzvernichtung in Deutschland mit so eminenten Zeitgenossen wie Thomas Mann, Heinrich Mann, Franz Werfel, Sigmund Freud und Albert Einstein teilen zu dürfen.
Die nächste große Biografie Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam hat Zweig nicht nur aus historischem Interesse, sondern auch aus apologetischen Gründen geschrieben, nachdem ihm anlässlich der weitgehend unpolitischen Marie Antoinette und wegen seiner Weigerung, an Klaus Manns Emigrantenzeit­schrift «Die Sammlung» mitzuarbeiten, einige Schriftstellerkollegen Defaitismus oder gar Kollaboration mit den Nationalsozialisten vorgeworfen hatten. Am Beispiel der Gestalt des Erasmus von Rotterdam, deren Darstellung ihm zu einer «verschleierten Selbstdarstellung» gerät, versucht Zweig die Tragik eines Menschen aufzuzeigen, «der, obwohl klarer den Widersinn der Zeit verstehend als die professionellen Weltverbesserer, tragischerweise doch nicht imstande war, mit all seiner Vernunft ihm in den Weg zu treten». Dabei ist sich Zweig der Problematik dieser Haltung des Erasmus (bzw. seiner selbst) durchaus bewusst: Das Ausweichen in den Entscheidungsstunden von Worms und Augsburg kritisiert er an Erasmus, ohne aber aus dieser Kritik für sich selbst Konsequenzen zu ziehen. Gerade weil der Erasmus Zweigs vielleicht persönlichste Biografie geworden ist, ist der historische Wert dieser Arbeit ambivalent: Einerseits bietet Zweig eine verständnisvolle und historisch fundierte Darstellung des Erasmus von Rotterdam, andererseits gerät die Darstellung der Erasmusgegner bisweilen holzschnittartig. Besonders Martin Luther tritt im Erasmus als Exponent des deutschen Nationalismus in Erscheinung, als «dämonisch getrieben, fanatisch und unfügsam», sodass das Ringen zwischen Humanismus und Reformation im 16. Jahrhundert bei Zweig zum tragisch-aussichtslosen Kampf der humanen, weitsichtigen und friedfertigen Menschen gegen Gewalt, Engstirnigkeit und Fanatismus wird – eine Sicht, die dem historischen Befund schwerlich entspricht. Nicht ganz ohne Ironie wird man hierzu darauf hinweisen müssen, dass das von Zweig gezeichnete Lutherbild eines unbeugsamen, durchsetzungsstarken nationalen Heros – wenngleich bei völlig entgegengesetzten Bewertungsmaßstäben – im Grunde dem Lutherbild der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts durchaus entspricht; eine kritische Aus­einandersetzung mit diesem lag Stefan Zweig 1934 offensichtlich fern.
Eine Anfang 1934 vom Polizeipräsidium überraschend angeordnete Hausdurchsuchung in seinem Haus in Salzburg bringt den hierüber höchst erbitterten Zweig dazu, Österreich zu verlassen und ohne seine Familie nach London überzusiedeln. In London erfüllt sich zunächst seine Sehnsucht, «einmal wieder ganz still zu leben und nichts Politisches zu hören». Befriedigt stellt er in der Welt von Gestern fest: «Ich stand hier völlig außerhalb.» In London folgt, obwohl Zweig nach eigener Aussage «genug hatte von Biografien», die Fertigstellung einer eher zufällig nach einem Besuch im British Museum begonnenen Arbeit an Maria Stuart. Auch wenn das Zentrum dieser Biografie in dem Versuch besteht, die äußerst widersprüchlichen Beurteilungen der Schottenkönigin und ihrer Gegenspielerin Elisabeth I. in ein überzeugendes, einheitliches und historisch zuverlässiges Bild hinein aufzulösen, darf man auch hier die Untertöne nicht überhören, die, gerade indem sie am Beispiel der handelnden Personen allgemeine, geschichtliche Prozesse transparent zu machen suchen, auch in die Gegenwart hineinsprechen.
Die Tendenz Stefan Zweigs, ausgerechnet Gestalten der Reformation als dogmatistische Fanatiker zu zeichnen und diese als Negativfolie den Vertretern des als friedliebend, weitherzig und menschenfreundlich dargestellten Humanismus entgegenzustellen, findet ihren Höhepunkt in der 1936 erschienenen Schrift Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt. Mehr als alle anderen Texte Zweigs ist dieses Buch eine in historisches Gewand eingekleidete Anklage gegen die Versklavung des freien Geistes im NS-Staat. In dem Humanisten Sebastian Castellio zeichnet Zweig gleichsam ein Idealbild seiner selbst: Während er im Erasmus in «verschleierter Selbstdarstellung» sich selbst dargestellt hatte, wie er war, schildert er im Castellio den Mann, «der ich sein möchte...» Der Humanist Castellio ergreift bei Zweig entschlossen und mutig Partei gegen den ganz als Tyrann und fanatischer Rechthaber dargestellten Johannes Calvin. Schon die Wortwahl bei der Calvin-Darstellung («Ideologie, Gleichschaltung, Terror, Fanatismus, Diktatur») rückt den Genfer Reformator unzweideutig in die Nähe Adolf Hitlers. Noch mehr als Martin Luther im Erasmus wird Johannes Calvin im Castellio zur Symbolgestalt für die faschistische Diktatur des 20. Jahrhunderts. Zwar hat Zweig selbst bei diesem Projekt durchaus sich darum bemüht, «nicht ungerecht gegen Calvin zu werden», und hat nach eigener Aussage versuchen wollen, «den Eindruck zu vermeiden, als ob bei meiner Darstellung die mindeste Animosität gegen Calvin vorgeherrscht hätte» und dementsprechend bei der End­redaktion des Buches in seinem Urteil auch «einige Abschwächungen vorgenommen». Doch wird man nicht umhinkönnen, ihm hier eine aus der Dramatik der aktuellen politischen Situation heraus leicht erklärbare, aber doch grobe Einseitigkeit der Darstellung zu attestieren. Während einige antifaschistische Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger positiv auf den Castellio reagieren, erfährt das Buch namentlich in der Schweiz eine heftige Ablehnung, weil Zweig Calvin und dem Calvinismus nicht gerecht geworden sei. Der Streit um den Castellio setzte sich in den folgenden Jahren und bis über den Tod Zweigs hinaus fort: Noch im Jahre 1946 kommt es anlässlich der postum erschienenen französischen Ausgabe des Castellio gegen Calvin zu einem erbitterten Streit über das Buch.
Im Jahre 1935 beginnt Stefan Zweig in London eine Affäre mit seiner Sekretärin Lotte Altmann, die wenige Zeit später zur endgültigen Trennung und 1938 zur Scheidung von seiner Frau Friderike führt. 1936 erfolgt eine erste Reise Zweigs nach Brasilien, wo ihm ein großartiger Empfang zuteil wird, und danach zum PEN-Kongress nach Argentinien, das ihn stark anzieht. Auch Brasilien macht einen tiefen Eindruck auf ihn, sodass er in der Welt von Gestern notiert: «So begann ich unter dem Kreuz des Südens wieder zu hoffen und zu glauben.» Gleichwohl kehrt Zweig zunächst nach Europa zurück. In den Jahren 1937 und 1938 erscheinen die Legende Der goldene Leuchter und die Biografie Magellan. Der Mann und seine Tat, in der Magellan vorbildhaft als einer der wenigen unfanatischen, humanen Pioniere der Menschheit gezeichnet wird.
Der «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich veranlasst Zweig im Jahre 1938, die britische Staatsbürgerschaft zu beantragen und ein eigenes Haus in Bath zu erwerben. Hier entsteht sein einziger Roman Ungeduld des Herzens, und hier heiratet Zweig im September 1939 Lotte Altmann. Der in eben diesem Monat durch den deutschen Überfall auf Polen ausbrechende Zweite Weltkrieg war indes zugleich die grauenhafte Erfüllung aller Befürchtungen Zweigs und faktisch das endgültige Ende aller ihm noch verbliebenen Hoffnungen. Von daher erklärt sich auch die Tatsache, dass er seine (erst 1941 vollendete) Autobiografie Die Welt von Gestern exakt mit dem 1. September 1939 enden lässt. Die Worte, die Zweig im September 1939 am Sarge Sigmund Freuds in London spricht, und ein Vortrag über Das Wien von gestern Anfang 1940 in Paris sind die letzten Stationen seines Wirkens auf europäischem Boden.
Im Sommer 1940 siedelt er mit Lotte Zweig nach New York über in dem klaren Bewusstsein, Europa nicht mehr wiederzusehen. Von New York aus unternimmt er eine ausgedehnte Vortragsreise nach Brasilien, Argentinien und Uruguay, ehe er 1941 im Alter von nunmehr sechzig Jahren endgültig nach Petropolis in Brasilien übersiedelt. Hier entstehen seine letzten Texte: die historische Miniatur Amerigo. Geschichte eines historischen Irrtums, die er als Danksagung an sein neues Heimatland verfasste, die Schrift Brasilien. Ein Land der Zukunft sowie die später berühmt gewordene Schachnovelle. Ein letztes Mal nimmt Zweig in diesem Text das Thema der Freiheit des geistigen Menschen gegen die Herrschaft brutaler Gewalt auf: Auf einem Passagierschiff besiegt der österreichische Emigrant Dr. B., in dem Zweig abermals sich selbst darstellt, aufgrund seiner geistigen Überlegenheit den dort zufällig mitreisenden, primitiv und brutal dargestellten Schachweltmeister Czentovic (den «Miniatur-Hitler»), doch unterliegt Dr. B. in der Revanche­partie, weil er aufgrund eines Nervenfiebers der Belastung des Kampfes nicht standhalten kann. Abermals hat, wie so oft bei Zweig, die inhumane Gewalt letztlich über das Geistig-Humane triumphiert.
Gleichzeitig mit der Schachnovelle vollendet Stefan Zweig schließlich seine Autobiografie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Der Untertitel dieses Buches unterstreicht noch einmal, wie sehr Zweig sich selbst als Europäer und als Anhänger der großen humanistischen Ideen Europas fühlte. Nach den katastrophalen Entwicklungen der 30er Jahre und seiner unfreiwilligen Auswanderung nach Südamerika musste er sich regelrecht entwurzelt fühlen, ein Zustand, über den auch die als positiv wahrgenommene neue Umgebung in Brasilien nicht wirklich und nicht dauerhaft hinwegzutäuschen vermochte.

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Stefan Zweig mit seiner
zweiten Frau

Am 22. Februar 1942 begehen Stefan Zweig und seine zweite Frau Lotte in Petropolis durch Einnahme einer Überdosis Veronal gemeinschaftlich Selbstmord. Im Abschiedsschreiben hatte Zweig formuliert: «Nach dem sechzigsten Lebensjahr bedurfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut der Erde gewesen.»
Auch wenn zeitgenössische Reaktionen auf den Selbstmord einiges Unverständnis über diesen Schritt äußern, vor allem im Blick auf die äußere Sicherheit Zweigs in Brasilien und auf seine materielle Unabhängigkeit, wird man doch andererseits betonen müssen, dass für ihn nicht nur die Welt «seines» alten Europa, sondern darüber hinaus auch der Glaube an das Humanum insgesamt durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zusammengebrochen war, sodass der Freitod als tragische, letztlich aber durchaus nachvollziehbare Entscheidung angesehen werden muss.
Das umfangreiche literarische Werk Stefan Zweigs hat höchst unterschiedliche Würdigungen erfahren. Während Thomas Mann Zweigs Weltruhm als «wohlverdient» bezeichnete und an ihm besonders die Gabe bewunderte, «historische Epochen und Gestalten psychologisch und künstlerisch lebendig zu machen», konstatierte Hermann Hesse abschätzig, er könne an Zweig «nichts finden, was mehr wäre als guter, gepflegter Feuilletonismus». Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Zweig hat diese Ambivalenz weitergetragen, wobei die kritische Bewertung jedoch dominierte. Für manche Kritiker basieren Zweigs Texte auf eingängigen und überschaubaren psychologischen Grundmustern, die in die Nähe der Trivialliteratur führen.
Im Blick auf neuere Publikationen über Stefan Zweig ist allerdings zu konstatieren, dass der namentlich in der deutschen Literaturwissenschaft und -kritik bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts bisweilen feststellbare abschätzige Umgang mit seinem Werk in letzter Zeit einer differenzierteren Auseinandersetzung zu weichen scheint. Ähnlich ambivalent muss die Beurteilung des «Historikers» Stefan Zweig bleiben. Bei aller Anerkennung der seinen biografischen Texten zugrunde liegenden intensiven Quellenarbeit wird man in den novellistischen Pointierungen und dramatischen Profilierungen seiner Figuren ein – in literarischen Darstellungen legitimes – Moment der «Fortschreibung» nicht übersehen dürfen. In manchen Texten freilich (Erasmus, Castellio) sind die als Gegengestalten zu den «tragischen Helden» Zweigs gezeichneten Personen (Luther, Calvin) unter historischen Gesichtspunkten in unzulässiger Weise auf ihre Rolle als Negativfolie fixiert. Bedenkt man seinen immens großen Leserkreis und die entsprechende Verbreitung seiner Texte, so hat Zweig hier eine beachtliche – und eben problematische – Wirkungsgeschichte entfaltet und z. B. das in vieler Hinsicht negative Calvinbild der Nachkriegszeit erheblich mit geprägt. Eine weitere grundsätzliche Anfrage ergibt sich im Blick auf die Durchführung der biografischen Konzentration bei Zweig, die ja eigentlich eine erhebliche Stärke in der Gestaltung seiner Texte ausmacht: Sie folgt aber insofern einem problematischen historiographischen Paradigma, als die handelnden Figuren immer wieder passiv als Ausführungsorgane der Schicksalsmacht «Geschichte» in Erscheinung treten. Das führt unweigerlich dazu, dass die politische Verantwortung des Einzelnen und die konkrete Verantwortung des Menschen für seine Geschichte etwas aus dem Blickfeld geraten. Derlei Kritik steht indes einer insgesamt positiven Würdigung des Werkes Stefan Zweigs nicht grundsätzlich entgegen: Unter literarischen Gesichtspunkten können der straffe, handlungsbetonte Aufbau, die geistreich-pointierte Ausdruckskraft und die hohe psychologische Nachvollziehbarkeit seiner Darstellungen bis heute als vorbildlich angesehen werden. Unter historischen Aspekten sind die Tiefenschärfe in der Darbietung von Handlungssträngen und Beziehungsgeflechten sowie das Hervortreten der Lebendigkeit von Geschichte zu loben. Hierin liegen die legitimen Ursachen für die bekannt gute Lesbarkeit Zweig’scher Bücher und für die bleibende Faszination seiner Texte.


Stefan Zweig
Schriftsteller

1881 28. November: Stefan Zweig wird in Wien geboren.
Bereits auf dem Gymnasium schreibt er unter dem Einfluss der Werke von Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke erste Gedichte.
1901 Publikation seines ersten Gedichtbandes unter dem Titel Silberne Saiten.
ab 1901 Mit Übersetzungen französischsprachiger Autoren zeigt sich bereits Zweigs Natur des «Mittlers zwischen den Menschen und Nationen».
Zahlreiche Feuilletons, Erzählungen und Dramen entstehen.
Reisen durch die ganze Welt verschaffen ihm Kontakte zu anderen Schriftstellern und Künstlern, mit denen er häufig lang anhaltende Korrespondenzen führt.
1910 Zweig veröffentlicht seine erste Biografie Émile Verhaeren.
1914–1917 Während des Ersten Weltkriegs leistet Zweig als Freiwilliger Dienst im Kriegspressequartier.
Geprägt durch seine Freundschaft zu Romain Rolland übernimmt Zweig dessen pazifistische Weltsicht.
1917 Er wird für zwei Monate vom Militärdienst beurlaubt und anschließend endgültig «enthoben».
1918 Offiziell Korrespondent der Wiener «Neuen Freien Presse», nutzt Zweig seine Verbindungen zu Zeitungen und Zeitschriften, um seine individuelle parteilose Meinung zu veröffentlichen.
ab 1919 Nach dem Krieg kehrt er nach Österreich zurück und lässt sich in Salzburg nieder. Hier kämpft er gegen Opportunismus und Nationalismus, setzt sich für die geistige Einheit Europas ein, warnt in Aufsätzen und Vorträgen vor Radikalisierung und ruft zu Diplomatie, Vernunft und Geduld auf.
ab 1920 Herausgabe zahlreicher Erzählungen, wie Angst, Der Zwang und Der Flüchtling, in Einzelausgaben.
1920–1928 Zweig verfasst drei Essays über Baumeister der Welt: Drei Meister (1920), Der Kampf mit dem Dämon (1925) und Drei Dichter ihres Lebens (1928).
1927 Sternstunden der Menschheit wird veröffentlicht.
1928–1930 Auf Vermittlung Maxim Gorkis erscheint die erste Gesamtausgabe seiner Werke auf Russisch.
1929–1932 Veröffentlichung des ersten historischen Bildnisses Marie Antoinette.
1934 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme flieht Zweig nach London.
1934–1938 Seine Bücher Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam sowie Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen Gewalt erscheinen nicht mehr im Insel-Verlag in Deutschland, sondern vor dem «Anschluss» Österreichs 1938 in Wien. In ihnen fordert Zweig dazu auf, Geschichte als Mahnung für die eigene Zeit zu verstehen.
1935 Zweig schreibt für Richard Strauss das Libretto zur Oper Die schweigsame Frau.
1936 Die Nationalsozialisten beschlagnahmen seine Bücher und verhängen ein Verkaufsverbot.
ab 1938 Zweig wendet sich wieder dem Erzählerischen zu: Teils befürchtet er, sein deutschsprachiges Publikum zu verlieren, teils glaubt er, mit seiner Literatur keinen Einfluss nehmen zu können.
1940 Englische Staatsbürgerschaft.
Während des Zweiten Weltkriegs verlässt er Europa und geht nach New York. Von dort aus reist er nach Argentinien, Paraguay und Brasilien, wo er sich ein Jahr später niederlässt.
1941 Herausgabe der Schachnovelle.
1942 Seine Autobiografie Die Welt von Gestern erscheint.
22. Februar: Stefan Zweig nimmt sich in Petrópolis (bei Rio de Janeiro) das Leben.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.bautz.de/bbkl/z/zweig_s.shtml