Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №13/2009

Sonderthema

Calvinismus

Der neue Geist
In einer vor hundert Jahren in Breslau gehaltenen Festrede aus Anlass des 400. Geburtstages Johannes Calvins liest man die erstaunlichen Sätze: «Auf calvinischem Boden ist das Sprichwort entstanden: Der Glaube versetzt Berge und arbeitet dabei mit Hacke und Spaten. ... Calvin hat wie kein anderer unter den Reformatoren betont, was die Arbeit produktiv mache, seien nicht allein die physischen und die geistigen, sondern vor allem die moralischen Kräfte. Der objektive Wert des in der Arbeit Geleisteten, der ökonomische Erfolg, besteht danach nicht in dem augenblicklichen Gewinn, sondern einzig und allein darin, dass reell gearbeitet wird. Ein Gedanke von geradezu ungeheurer Tragweite! Man verkennt diese Tragweite deshalb so leicht, weil man es für ebenso selbstverständlich hält, wie es einfach ist.»
Auf welchem Boden befinden wir uns hier? Es ist das Problem der Weltgestaltung, das erst in der Genfer Reformation mit der ihm eigenen Dringlichkeit in den Gesichtskreis tritt. Indem Calvin an dieser Front umsichtiger, aber auch kompromissloser geredet hat als das Luthertum, hat er die Reformation welt- und geschichtsfähig gemacht.
Das Zitat spricht vom sogenannten «Calvinismus», jener einflussreichen Strömung, die in Westeuropa das Erbe der calvinischen Theologie auf dem Boden der Gesellschaft, ihrer Kultur, Wirtschaft und Politik mit einer ungeheuer großen Breitenwirkung aufzunehmen und zu bewähren versucht hat. Denn die Geschichte ist das Feld, auf dem das Christentum sich ausleben muss, auf dem es sich unversehens aber auch kompromittieren kann. So gehört schon der Begriff «Calvinismus» nicht eigentlich in die Theologie, sondern eher in die allgemeine Kulturgeschichte und Soziologie hinein. Der Soziologe Max Weber und der evangelische Theologe Ernst Troeltsch haben ihn zu einer Art Leitbegriff stilisiert, mit dessen Hilfe sie die Entwicklung der europäischen Moderne entschlüsseln zu können meinten.

«Aktive und effiziente Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse»
Das Wahrheitsmoment dieser klassischen soziologischen These und in eins damit das Phänomen, um das es hier geht, hat der reformierte Theologe und Calvin-Übersetzer Otto Weber (1902–1966) später so interpretiert: «Was seine Vertreter bewegte, war der aus der Gewissheit der Erwählung erwachsene Drang, für Gottes ‹Ehre› in der Kirche und in der Welt einzutreten und Gott die ‹Dankbarkeit› zu erweisen, die ihm zukommt: ‹Gestaltung› wäre das sachentsprechende Wort für das, was dem Calvinismus vorschwebte ... Eine [solche] Bewegung war nicht dazu angetan, Sache der Theologen zu bleiben.» Denn die hier genannten Spitzenbegriffe – «Erwählung», «Ehre Gottes», «Dankbarkeit» – interpretieren nicht nur das Dasein des Menschen vor Gott, sondern formulieren zugleich auch die Motive, die die von ihnen geprägten Gemeinden zu einer außerordentlich aktiven und effizienten Gestaltung ihrer politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse befähigt haben.
Theologisch stehen sie im Zeichen der Sammlung «reiner» Abendmahlsgemeinden, und das bedeutet ja, dass der Reform der Lehre die des Lebens auf dem Fuß folgen muss. So führt die starke Betonung der Souveränität und Ehre Gottes – um nur das Wichtigste zu nennen – zu einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber allen Formen einer absolutistischen weltlichen Obrigkeit; das Bilderverbot in den Kirchen hat das Aufkommen und die beispiellose Blütezeit der profanen Malerei in den Niederlanden befördert, Möglichkeit und Wirklichkeit einer Gotteserkenntnis aus den Spuren der Schöpfung öffnen den Weg zu einer intensiven wissenschaftlichen Durchdringung der Natur. Die Betonung des «Gesetzes» als Richtschnur des christlichen Lebens prägt das sprichwörtliche Arbeitsethos der Calvinisten, aber auch ihre «Gesetzlichkeit». Die presbyterial-synodale Kirchenverfassung wird mit Recht als eine der Wurzeln westeuropäischer Demokratie herausgestellt, wobei man freilich nicht vergessen darf, dass diese Wurzel sich erst durch den Terror, etwa der «Glorious Revolution» in England und der gewaltsamen Intoleranz in Teilen der Siedlerkolonien Amerikas, hindurch­arbeiten musste.

Ordnung stiftendes Ferment
Hinzu kommt, dass der Calvinismus auf allen Gebieten, in die er vordringt, nicht nur in Genf, große soziale Krisen vorfindet, in die er als Ordnung stiftendes Ferment eingreift. Das Evangelium wird hier nicht bloß als eine Kraft «selig zu machen alle, die daran glauben» begriffen, sondern als Heilmittel für öffentliche und allgemeine Schäden der Gesellschaft, das heißt als ein prägendes Element der Reinigung und Erneuerung.
Seine geschichtlich wirksamste Gestalt ist der auf eine rein praktische Bewährung des Glaubens dringende Puritanismus geworden, der von England und Amerika aus auch auf den Kontinent übergriff und einen heute kaum vorstellbaren Einfluss gewann. Hausandachten, genauer Jugendunterricht, äußerste Einfachheit in Kleidung und Lebensführung sind die Kennzeichen, die sich mit dem Bild des Puritaners verbinden.
Die Vorstellung, dass man sich seiner Erwählung durch die (sehr wohl auch materiellen) Früchte eines Gott wohlgefälligen Lebens vergewissern könne, war zweifellos ein wichtiges Motiv des von breitesten Schichten getragenen Aufbruchs. So dürfte der von Weber geprägte Begriff der «innerweltlichen Askese» tatsächlich eine höchst charakteristische Seite dieses eigenwilligen Calvinismus treffen.

Legitime Herrschaft hat sich am allgemeinen Wohl auszurichten
Auf dem Gebiet der Politik war der Bundesgedanke besonders folgenreich: Regierung und Volk sollen in einem Verhältnis zueinander stehen, das sein Urbild in der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk hat. Hier bestimmt das Prinzip wechselseitiger Verpflichtung die Spielregeln. Legitime Herrschaft hat sich dementsprechend am allgemeinen Wohl auszurichten; sie verbindet sich schon bei Calvin mit dem Auftrag, für Freiheit und Gerechtigkeit einzutreten, und wird als einklagbare Pflicht des Magistrats verstanden. Der Appell an das Volk ist bei ihm und seinen Nachfolgern in allen schwierigen Fragen die ultima ratio, sich Gehör zu verschaffen.
Die Schrecken der Bartholomäusnacht (1572) treiben die Entwicklung einen weiteren Schritt voran. Theodor Beza (1519–1605), Calvins treuester Schüler und Rektor der Genfer Akademie, hebt angesichts des Terrors der französischen Staatsgewalt die Theorie vom Untertanengehorsam prinzipiell auf und erklärt für solche Notfälle den Willen des Volkes zur letzten Instanz: «Völker sind älter als ihre Magistrate, folglich ist kein Volk für den Magistrat geschaffen, sondern der Magistrat für das Volk» – im 16. Jahrhundert ein wahrhaft ungewöhnlicher Satz!
Das gilt erst recht im Blick auf die Folgerung, für die er sich ausdrücklich auf das Naturrecht beruft: Wer die Macht hat, einen König einzusetzen, hat auch die Macht, ihn abzusetzen, und diese Macht ist dann gefordert, wenn der rechtmäßige Regent seine Gewalt über seine Mitbürger missbraucht. Damit ist das Widerstandsrecht – jedenfalls in der Theorie – etabliert. Mögen Sätze wie diese noch von mancherlei Einschränkungen umgeben sein, sie schaffen tatsächlich die Bedingungen für neue Möglichkeiten: Volkssouveränität, Vertragslehre, gesetzliche Bindung statt freier Willkür der Regierenden.

Aufbau moderner Wirtschaftsformen
Offenkundig ist der Beitrag des Calvinismus auf dem Gebiet der ökonomischen Entwicklung. Die preußischen Könige wussten, was sie taten, als sie den aus ihrer Heimat vertriebenen Hugenotten ihr Land und ihre Städte öffneten. Die Rechenschaftsberichte der brandenburgisch-preußischen Kolonien belegen eindrücklicher als die klassischen sozialwissenschaftlichen Theorien die kaum zu überschätzende Bedeutung des Calvinismus für den Aufbau moderner Wirtschaftsformen. Die französischen Einwanderer brachten neue Kenntnisse und Fertigkeiten nach Preußen, erprobten neue Produktions- und Handelsformen und unternahmen Auslandsreisen, um neueste Techniken zu studieren.
Es ist die neue religiöse Wertung der rastlosen weltlichen Berufsarbeit, die solche Erfolge möglich macht. Arbeit und Gewerbefleiß ist eine Pflicht gegen Gott, und so ist auch der Mensch nur Verwalter der durch Gottes Gnade ihm zugewendeten Güter. Er darf sie nicht genießen, sondern soll sie zum Nutzen seiner Mitmenschen in Fabriken, Stiftungen oder Schulen investieren. Allerdings hätte ein solches Arbeitsethos allein niemals einen derartigen wirtschaftlichen Aufschwung herbeigeführt, wenn es nicht mit einem Wandel in den ökonomischen Fundamenten einhergegangen wäre.
Was von der Wirtschaft gilt, darf mit noch größerem Recht von der Kultur, insbesondere in ihrer Gestalt als Wissenschaft, behauptet werden. Auch hier erwies sich der Calvinismus als Wegbereiter der Moderne. Im 17. Jahrhundert ist die Beteiligung hugenottischer und puritanischer Forscher an der Entwicklung und Verbreitung der Naturwissenschaften (namentlich in England und den Niederlanden) ungewöhnlich hoch.
Der neue Geist kritischer, wirklichkeitsbezogener Forschung mit seiner Fähigkeit, überlieferte Denkweisen durch Beobachtung, Experiment und neue Theoriebildung zu durchbrechen, breitet sich von der Theologie und ihrer Schriftexegese auf das Gebiet des «Buches der Natur» aus. Wo Martin Luther in der Kontroverse mit Erasmus die Brücken zu dem bemerkenswertesten kulturellen Phänomen seiner Zeit, dem europäischen Humanismus, abgebrochen hat, genau da kann Calvin zu einem erstaunlichen Lob der «heidnischen» Künste und Wissenschaften ausholen.

Lob der «heidnischen» Künste und Wissenschaften
Es ist eine explizit theologische Brücke, welche den universalistischen Ansatz begründet, mit dem sich der Calvinismus dem Thema der Kultur zu stellen versucht: Gottes Geist ist nicht nur in den Frommen wirksam, er wirkt auch in den Skeptikern und Ungläubigen, und darum auch als Motor einer säkularen Natur- oder Rechtswissenschaft. Wo eine medizinische Erfindung das krank gewordene Leben erträglicher macht, wo die Mathematik uns die Gesetze der Natur erkennen und formulieren lässt, da ist Gottes eigener Geist, der Geist der Wahrheit am Werk. So ist gerade die Kultur ein Instrument der Weltregierung Gottes, der nicht nur seiner Kirche, sondern auch der von ihm geschaffenen Welt und Menschheit die Treue hält.
Calvins Aufstellungen hinterließen nachhaltige Spuren in der Kulturgeschichte Westeuropas. Da ist Abraham Kuyper (1837–1920), der als Theologe und Staatsmann das Ideal der «Heiligkeit» der Gesellschaft in seiner vielleicht aktivsten Form vertrat und für die Überwindung des sozialen Elends in den Niederlanden so viel wie kein Zweiter getan hat. Er baute sie zu einer Lehre von der «allgemeinen Gnade» aus, die zum Sprungbrett einer sehr weitherzigen natürlichen Theologie wurde. Neben Kuyper steht der presbyterianische Pfarrerssohn und spätere amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924), der sich an vorderster Front für die Verwirklichung des Völkerbundes – gleichsam als irdisches Abbild des göttlichen Bundes – einsetzte und als dessen Residenz die Stadt Calvins vorschlug.
In seiner vielleicht klarsten Gestalt tritt das, was Calvin wollte und meinte, im Lebenswerk des Schweizer Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945) zu Tage. Er versuchte mit seinem Eintreten für eine demokratisch-genossenschaftliche Ordnung der Gesellschaft und später als einer der Wortführer der internationalen Friedensbewegung unter Beweis zu stellen, dass die Aufgabe der Kultur kein Selbstzweck sein könne. Sie sei der Wanderschaft der Christen zugeordnet und müsse schon deshalb die nationalen Schranken zwangsläufig sprengen. Es war kein Zufall, dass Ragaz die aufkommende Bewegung der Sozialdemokratie als ein weltliches Zeichen der verheißenen Gottesherrschaft begriff.

Aufgabe der Weltgestaltung
An diesen drei Gestalten wird ein einheitlicher Grundzug des Calvinismus eindrucksvoll sichtbar: Die Kirche kann sich der uns gestellten Aufgabe der Weltgestaltung nicht entziehen. Darum etabliert sich die Kultur, die ihrem calvinischen Auftrag treu bleibt – auch, wo sie im Labor, im Atelier oder im Parlament zu ihrer spezifischen Entfaltung kommt –, niemals als eine autonome Domäne menschlicher Tätigkeit, sondern sie steht im Dienst der Ehre Gottes. Das ist gerade von Kuyper zu lernen, der auf dem Höhepunkt des reformierten Kulturbewusstseins dessen Motiv einmal so umschrieben hat: Auch mit seiner Kultur bleibt der Mensch Pilger, «nicht als durchzöge er eine Welt, die ihn nichts angeht, sondern Pilger in dem Sinne, dass er auf jedem Punkt des langen Weges mit diesem Gott zu rechnen hat, der ihn am Ende des langen Weges erwartet».

Christian Link

Der Text ist entnommen aus: http://zeitzeichen.skileon.de