Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №13/2009

Wissenschaft und Technik

Höflich ins nasse Grab

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Zeitgenössische Zeichnung der «Titanic»-Katastrophe: Rund 1500 von 2200 Passagieren fanden in der Nacht zum 15. April 1912 den Tod.

Forscher haben am Untergang der «Titanic» untersucht, wie sich Menschen im Angesicht des Todes verhalten. Das Ergebnis: Geld und Macht sind immer von Vorteil, aber selbst in Extremsituationen gehen soziale Normen nicht über Bord. Und: Die Briten stellen sich immer höflich hinten an.
Die «Titanic» ist auch fast 100 Jahre nach ihrem Untergang noch für Neues gut. Wissenschaftler haben jetzt die Passagierliste des 1912 gesunkenen Ozeanriesen noch einmal genau analysiert und ausgerechnet, wer im Angesicht des sicheren Untergangs die besten Überlebenschancen hatte.
Die brisante Fragestellung lautete: Lassen Menschen alle Regeln des sozialen Miteinanders fahren1, wenn es um die Rettung der eigenen Haut geht? Oder halten sie sich selbst dann noch an die Normen, wenn es den sicheren Tod bedeutet? Die Datenlage ist in dieser Hinsicht dünn, was verständlich ist. Lebensbedrohliche Situationen im Experiment mit Menschen nachzustellen, würde einige offensichtliche Schwierigkeiten bereiten.
Die «Titanic» aber, schwärmen die Forscher, liefere als «quasi-natürliches Experiment» Daten über menschliches Verhalten, die angesichts der zugleich kontrollierten als auch lebensbedrohenden Situation äußerst selten seien.

Regeln blieben intakt
So viel sei vorweggenommen2: Während die «Titanic» sank, blieben die Regeln der Zivilisation weitgehend intakt. Das mag zunächst kaum überraschen, denn aus den Berichten der Überlebenden sind keine Szenen bekannt, in denen Massen von Passagieren mit brutaler Gewalt um die wenigen Plätze in den Rettungsbooten gekämpft hätten. Stattdessen ist oft von Ehemännern die Rede, die ihre Frauen und Kinder in die Boote setzten, um dann in aller Ruhe mit der «Titanic» unterzugehen. Oder von Musikern, die den Todgeweihten lieber ein letztes Ständchen spielten, anstatt zu versuchen, sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Dennoch konnten Bruno Frey von der Universität Zürich und seine Kollegen David Savage und Benno Torgler von der australischen Queensland University den Statistiken interessante Details entlocken3. Beispielsweise lässt sich die Frage, mit der die Autoren ihre Studie überschreiben – «noblesse oblige?» («Adel verpflichtet?») – klar verneinen, zumindest aus Sicht der gesellschaftlich bessergestellten Passagiere auf der «Titanic».
Die soziale Klasse habe eine «starke Wirkung» auf die Überlebenschancen gehabt, schreiben die Wissenschaftler in ihrem Fachartikel: Wer ein Ticket für die erste oder zweite Klasse hatte, kam demnach mit weit größerer Wahrscheinlichkeit mit dem Leben davon als die Passagiere der dritten Klasse. Bei den Frauen etwa steigerte die Zugehörigkeit zur ersten Klasse die Überlebenschancen um 40 Prozent.
Als Faktoren nennen die Forscher bevorzugte Behandlung durch die Mannschaft sowie einen besseren Zugang zu wichtigen Informationen, Entscheidungsträgern und führenden Crewmitgliedern. Außerdem seien die Passagiere in Klasse eins und zwei näher an den oberen Decks und damit an den Rettungsbooten gewesen.

Benahmen sich Briten besser als Amerikaner?
Auch die Mannschaft selbst verhielt sich offenbar nicht immer altruistisch, wie die Wissenschaftler herausgefunden haben: Ihre Überlebenschancen waren erhöht – vermutlich konnten sie ihren Informationsvorteil und den besseren Zugang zu den Rettungsbooten ebenso ausnutzen wie die betuchten Passagiere.
Insgesamt aber untermauern die Ergebnisse nach Meinung der Wissenschaftler auf eindrucksvolle Weise, «dass soziale Normen und Altruismus eine Rolle spielen», und zwar auch in Extremsituationen wie auf der «Titanic». So sei die Norm «Frauen und Kinder zuerst» weitgehend befolgt worden. Frauen hätten eine bis zu 54 Prozent höhere Überlebenschance als Männer gehabt, Kinder eine 30 Prozent höhere Chance als Passagiere über 50. Am besten seien Frauen dran gewesen, die sich im gebärfähigen Alter befanden und Kinder bei sich hatten.
Dies entspreche durchaus soziobiologischen Erkenntnissen, schreiben die Forscher: Um das Überleben der eigenen Art zu sichern, sei es nun einmal am besten, den Nachwuchs und gebärfähige Frauen zu retten. Die Geschehnisse auf der «Titanic» zeigten, dass sich solche eher theoretischen Überlegungen selbst dann im konkreten Handeln widerspiegeln, wenn es um Leben und Tod gehe.
Nur kommt es dabei offensichtlich nicht auf Geschlecht und Alter allein an. Die britische BBC hat noch eine andere Erkenntnis aus den Daten gezogen: Briten stellen sich höflich in die Schlange, egal ob an der Bushaltestelle oder auf der «Titanic». Die Amerikaner aber hätten sich mal wieder vorgedrängelt – zu erkennen sei das daran, dass sie statistisch gesehen unter gleichen Umständen die besten Überlebenschancen hatten.
«Die amerikanische Kultur war individualistischer, die britische betonte eher das Ideal des Gentleman», meint Wirtschaftswissenschaftler Savage. «Man muss sich klarmachen, dass es zur damaligen Zeit als höchste Form der Gesellschaftsfähigkeit angesehen wurde, ein Gentleman zu sein.» Normen wie «Frauen und Kinder zuerst» seien in einem solchen Umfeld eben stärker gewesen.

Der Text ist entnommen aus: http://www.spiegel.de



1 etw. fahren lassen: 1. etw. nicht mehr [fest]halten, sondern [schnell] loslassen: sie hat seinen Arm f. lassen, [seltener auch:] f. gelassen. 2. etw. aufgeben; auf etw. verzichten, nicht mehr daran glauben, festhalten: sie hat alle Hoffnung f. lassen; einen f. lassen (derb; eine Blähung abgehen lassen).

2 vor|weg|neh|men <st. V.; hat>: etw., was eigentlich erst später an die Reihe käme, schon sagen, tun: etw. in Gedanken, gedanklich v.; die Pointe v.; Ü die Theorie nimmt den späteren Demokratiegedanken praktisch schon vorweg.

3 ent|lo|cken <sw.V.; hat>: jmdn. zu einer Äußerung veranlassen: jmdm. ein Lächeln zu e. versuchen; Ü er konnte dem Instrument keinen Ton e.