Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №11/2009

Literatur

Peter Schneider
Vati

Fortsetzung aus Nr. 08, 09, 10/2009

Nein, ich kann nicht behaupten, daß ich benachteiligt worden wäre. Durch die Angst aller, mich für einen irgendwie ungünstigen Nachnamen büßen zu lassen, war ich zu einem durchwegs Bevorzugten geworden.
Daran änderte sich nicht viel, als Ende der fünfziger Jahre ein Steckbrief erschien. Bis zum Abitur blieb ich vor meinem Namen halbwegs geschützt, denn nur die Erwachsenen redeten mich damit an. Für dich und die meisten Mitschüler war ich «der Wutz», und niemand dachte mehr daran, daß dieser Spitzname in Wahrheit ein Schimpfwort war.
Heitzmann – du erinnerst dich, der vom katholischen Seminar – hatte den Vierfarbenkuli des Biologielehrers geklaut und war dann vergeßlich genug, ihn sogar während des Unterrichts zu benutzen. Natürlich war der silbrig glänzende Stift nicht nur uns aufgefallen, auch der Lehrer erkannte ihn wieder. Zur Rede gestellt, wie er in den Besitz des Kulis gelangt sei, hatte Heitzmann mit dem Finger auf mich gezeigt und dreimal den seltsamen Laut ausgestoßen: Wutz, Wutz, der Wutz hat es getan!
Bis heute weiß ich nicht, ob der Hanseat Heitzmann dieses Wort kannte oder in seiner Not erfand. Ich bin damals, rot bis unter den Scheitel, aufgestanden und habe mich damit schuldig bekannt. Ich verstand das harmlose Schimpfwort als ein Zeichen der Anerkennung, fast als ein Erlösungswort. Jedenfalls habe ich mich rasch an den Spitznamen gewöhnt, wenn auch nie ganz vergessen, daß es für ein Vergehen stand, das ich gar nicht begangen hatte.
Der Spruch von «der Gnade der späten Geburt» war damals noch nicht erfunden und stand mir nie zur Verfügung; ich spürte lange, bevor ich es wußte, daß ich schuldig geboren war.
Ich verkroch mich, ich wurde dick. Keine Lust auf Fußball, Schwimmen, Tanzstunde, Skiwochenende auf dem Schauinsland, den ganzen lauten Gemeinschaftstrott. Stundenlang bin ich durch die Wälder gerannt und empfand nichts als Ekel vor dem saftigen Grün, dem süßlichen, klebrigen Saft der Linden. Immer dieses Gefühl, daß die Bäume lügen, das Gras lügt, der Himmel lügt. Manchmal, wenn ich unter einem Felsen lag und am Stamm einer Fichte hinaufschaute, hinauf zu den Wipfeln, diesen vom Föhn lächerlich aufgeregten Wipfeln, glaubte ich, ich würde gerufen. Jemand rief mich bei einem Namen, den ich noch nie gehört hatte, und ohne Vorbereitung schossen mir Tränen in die Augen.
Ruhig wurde ich, wenn ich Musik hörte, immer dieselbe Musik, das Streichquintett von Brahms, c-moll, glaube ich. Wenn ich das Cello hörte im langsamen Satz, war es, als würde ich endlich bei meinem wahren, nur mir bekannten Namen gerufen. Die Ränder der Gegenstände lösen sich auf, das Zimmer, das Haus füllt sich mit Wasser, der Körper verliert sein Gewicht, er schwimmt und schlingert, wird hin und her geworfen, aber nicht von den Wellen, sondern von unsichtbaren Strömen tief unten im Meer, in bewußtloser Wachheit hört er die Melodie, die in Klang geschriebene Botschaft, aber er versteht sie nicht, denn die Melodie kommt ja gar nicht von außen, sie erfüllt ihn wie das Wasser den Ertrunkenen.
Meine krankhafte Eifersucht, vielleicht erinnerst du dich. Ich verbot dir regelrecht, dich mit anderen Jungen aus unserer Klasse zu treffen. Ja, ich hielt dich für meinen besten Freund.
Warum hast du mich nie gefragt, was damals, an jenem Julinachmittag, in mich gefahren war? An diesem Tag – es herrschte die für die Jahreszeit typische Schwüle, die sich oft erst nach Tagen in einem Gewitter entlädt – wußte ich plötzlich, daß du mich belogen hattest. Ich kletterte hinten an eurem Haus die Feuerleiter hoch in den dritten Stock, stieg über den Balkon in die Wohnung und ertappte dich dort beim Schachspiel mit Werner, ausgerechnet mit meinem Cousin Werner, dem größten Schleimer und Streber der Schule. Übergroß, funkenstiebend stand ich im Zimmer, ich konnte vor Empörung nicht sprechen, ich dachte, jetzt wirst du dich auf die Knie werfen und um Verzeihung bitten, herkriechen an meine Seite wirst du und schwören, daß du mich nie mehr verraten wirst. Ihr saht euch an und lachtet nur über mich: den dicken, spinnerten Wutz!

 

[...]

Aus: Peter Schneider: Vati. Erzählung.
Hermann Luchterhand Verlag GmbH & Co KG,
Darmstadt und Neuwied 1987.

 

Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

be|nach|tei|li|gen <sw. V.; hat> [zu Nachteil]: schlechter behandeln, hinter andere zurücksetzen; jmdm. nicht das Gleiche zugestehen wie anderen: er benachteiligte seinen Sohn gegenüber der Tochter; diese Bestimmung benachteiligt Frauen; ein wirtschaftlich benachteiligtes Gebiet; ich fühlte mich benachteiligt.

bü|ßen <sw. V.; hat> [mhd. büeZen = bessern, wiedergutmachen, ahd. = [ver]bessern, wiedergutmachen; vgl. Buße]: 1. a) (Rel.) durch selbst gewählte od. auferlegte Bußübungen von einer Schuld o. Ä. wieder frei werden: seine Sünden b.; b) für eine Schuld etw. als Strafe erleiden, auf sich nehmen [müssen]: eine Tat b.; das sollst du [mir] b.!; er büßte seinen Leichtsinn (bezahlte ihn) mit dem Leben. 2. (schweiz. Rechtsspr.) mit einer Geldstrafe belegen: man hat ihn mit einer hohen Strafe gebüßt. 3. (veraltet) befriedigen.

durch|weg(s) <Adv.>: gänzlich, ausnahmslos: sie zeigte d. gute Leistungen; die Statuen sind hier d. römische Kopien.

Wutz, die; -, -en, auch: der; -en, -en [lautm.] (landsch., bes. westmd.): 1. Schwein. 2. a) (derb abwertend, oft als Schimpfwort) Schwein, jmd., den man wegen seiner Handlungs- od. Denkweise als verachtenswert betrachtet: die W. hat mich reingelegt; du alte W.!; b) (derb abwertend) Schwein, jmd., der sich od. etw. beschmutzt hat: welche W. hat denn hier ihren Kaugummi hingeklebt?

Han|se|at, der; -en, -en: 1. (hist.) der Hanse angehörender Kaufmann. 2. Bewohner einer der sieben Hansestädte, bes. aus der vornehmen Bürgerschicht.

Trott, der; -[e]s, -e [wohl aus dem Roman., vgl. ital. trotto, frz. trot = Trab, zu ital. trottare = traben bzw. frz. trotter = traben, viell. verw. mit treten]: 1. langsame [schwerfällige] Gangart [von Pferden]: die Pferde gehen im T. 2. (leicht abwertend) immer gleicher, eintöniger Ablauf: der alltägliche T.; es geht alles seinen gewohnten T.; in den alten T. verfallen, zurückfallen (die alten Gewohnheiten annehmen).

schlin|gern <sw. V.> [aus dem Niederd. < mniederd. slingern = hin und her schlenkern, zu schlingen]: a) (von Schiffen) sich im Seegang o. Ä. um seine Längsachse drehen, wobei abwechselnd die eine u. die andere Längsseite stärker ins Wasser taucht; rollen <hat>: das Boot, Schiff schlingert; *ins Schlingern geraten/kommen (die Kontrolle über etw. verlieren, unsicher werden, sich einer Situation plötzlich nicht mehr gewachsen sehen). b) sich schlingernd, mit Schlingerbewegungen fortbewegen <ist>: die Boote schlingerten durch die raue See.

Schlei|mer, der; -s, - (abwertend): Schmeichler, Heuchler.