Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №22/2008

Wissenschaft und Technik

Grenzen des Wachstums

In den letzten Jahrhunderten sind die Deutschen – und viele andere Völker – immer größer geworden. Jetzt scheint der Höhenflug zumindest in Europa zu Ende zu gehen.

Fortsetzung aus Nr. 21/2008

Wenn die Menschen immer größer werden, hat das Folgen: Möbel, Kleidung, Autos – alles muss den veränderten Körpermaßen angepasst werden. Beispiel Frauen-Oberbekleidung: Die Konfektionsgröße 40 ist heute deutlich größer geschnitten als vor 30 Jahren. Die Hauptmarktanteile haben sich in wenigen Jahren von den Größen 38/40 auf 40/42 verschoben.
Elfriede Kirchdörfer vom Hohensteiner Institut für Textilforschung hat bei Reihenuntersuchungen außerdem festgestellt, dass die deutschen Frauen nicht nur größer werden, sondern sich auch figürlich verändern: «Die Taillen werden gerader, die Figuren sozusagen männlicher.»
Der deutsche Mann hat sich zwar auch verändert, bleibt aber modisch ein unerforschtes Wesen: Seit 1978 hat die Textilindustrie es nicht mehr für nötig befunden, Männer zu vermessen, bemängelt Elfriede Kirchdörfer. Die Textilforscherin tadelt weiter, dass es «eigentlich keine passende Kleidung für lange, dünne Menschen gibt. Für die Industrie existieren nur kleine, zierliche und große, breite Menschen.» Bei den Konfektionsgrößen herrscht zudem europaweite Anarchie, jedes Land benutzt andere Kennzeichen und Größenzahlen.
In anderen Lebensbereichen versucht die EU, einen gemeinsamen Nenner zu finden – mit fragwürdigen Ergebnissen: Noch immer überra-

gen etwa Holländer und Norweger die Portugiesen oder Griechen um gute zehn Zentimeter. Die «goldene Mitte» führt dazu, dass sich Deutsche tiefer über ihre Schreibtische beugen müssen: Die Deutsche Industrienorm für die Schreibtischhöhe betrug 76 Zentimeter, in der Europanorm wurde die Arbeitsplatte für Millionen auf 72 Zentimeter abgesenkt. Mit den Osteuropäern der erweiterten EU wird die «goldene Mitte» demnächst noch einmal neu definiert werden müssen.
Zuverlässig ist die dann trotzdem nicht. Der Kieler Industrieanthropologe Hans W. Jürgens beklagt die Schwierigkeiten bei der Beschaffung verlässlicher Zahlen in den europäischen Ländern: In Frankreich zum Beispiel wird die durchschnittliche Größe seit Jahren an den Arbeitern der Renault-Werke ermittelt. Das offizielle Ergebnis: Die Franzosen sind in den letzten Jahrzehnten nicht größer geworden. Dabei ist allerdings nicht berücksichtigt, dass bei Renault seit langem algerische Arbeiter eingestellt werden, die gewöhnlich kleiner sind als Franzosen. Sie drücken die Statistik und hindern die Franzosen scheinbar am Wachsen.
Überhaupt gebe es Probleme bei der Erhebung europaweiter Daten, resümiert Jürgens weiter. Angaben über die Durchschnittsgrößen der erwachsenen Bürger in einzelnen EU-Staaten sind so unsicher, dass die meisten Länder einer Veröffentlichung der Daten nicht zustimmen, weil sie für die Richtigkeit keine Garantie geben wollen.
Seit dem vergangenen Jahr stehen in Deutschland die Industrie-Normen auf dem Prüfstand. Die Wohnbevölkerung – erstmals inklusive der hier lebenden Ausländer – wurde neu vermessen. 6000 repräsentativ ausgewählte Männer und Frauen wurden nach 59 verschiedenen Maßen durchgecheckt, darunter Körpergröße, Reichweite der Arme, Unterschenkellänge und Augenhöhe.
«Die Körpergröße», so Jürgens, Vorsitzender des Deutschen Normenausschusses für Angewandte Anthropometrie, «spielt für uns eine untergeordnete Rolle, nur, wenn wir etwa wissen wollen, ob Türhöhen oder Matratzen verändert werden müssen. Für Autoproduzenten und Büromöbelhersteller sind andere Maße von Bedeutung – zum Beispiel ob sich die Gesäßbreite verändert hat.» Hier habe sich einiges getan. «In diesem Punkt», so Jürgens, «setzen die Frauen den Maßstab, vor allem jene aus dem Mittelmeerraum.» Klartext: Die Bürostühle und Fernsehsessel müssen breiter werden. Jürgens: «Man könnte sagen, die McDonaldisierung der Bevölkerung ist, unabhängig von Ost/West- oder Inländer/Ausländerfragen, deutlich belegt.»
Der Normenausschuss berät die Industrie. «Oft allerdings», bemängelt Hans W. Jürgens, «werden unsere Ergebnisse nur als lästig empfunden. Dann heißt es: Jetzt müssen wir schon wieder etwas ändern.» Die Industrie könnte, wenn sie den unterschiedlichen Körpergrößen gerecht werden wollte, verschieden große Stühle und Sessel herstellen. Billiger ist es aber, möglichst viele Verstellmöglichkeiten bei ein und demselben Modell anzubieten. «Dabei», kritisiert Jürgens, «können die meisten Menschen ihre Stühle gar nicht richtig einstellen. Allenfalls wissen sie noch, wie man die Sitzhöhe ändert.»
Manche Firmen – etwa VW und Daimler – sitzen selbst im Normenausschuss. Das scheint sie nicht vor Fehlplanungen zu schützen: «Bei der Entwicklung der A-Klasse», so der Kieler Normenforscher, «hatte Daimler Angst, dass da keine Dicken reinpassen. Sie ließen sogar Helmut Kohl probesitzen. Da sie die ganze Zeit nur auf große Männer fixiert waren, vergaßen sie völlig die kleinen Frauen. Nun hat sich herausgestellt, dass vor allem Frauen die A-Klasse fahren. Und jetzt passt vieles nicht.» Merkwürdigerweise gebe es wenig Beschwerden. Die Benutzerinnen suchten den Fehler wohl eher bei sich als beim Hersteller: «Wenn Sie kurze Beine haben, beschweren Sie sich nicht.»
Manchmal läuft die Entwicklung von Industrieprodukten und Körpermaßen geradezu konträr. Handys werden immer kleiner, während die Finger der Benutzer mehr und mehr in die Breite gehen. Doch die Kunden empören sich nicht, sondern nehmen die Winzlingshandys als modisch hin.
Gravierender erscheint dem Kieler Industrieanthropologen die Möblierung der Schulen. Da würden schwere Fehler gemacht: «Architekten plädieren aus ästhetischen Gründen meist für eine einheitliche Möblierung der Klassen und behaupten, die Kinder wüchsen schon in die Stühle hinein. Dabei müssen Kinder doch ihrem Alter entsprechende Stühle und Tische bekommen.»
Auch andere Lebensbereiche müssten neu überdacht werden. So fordert der Karlsruher Größenforscher Kenntner beim Schulsport: «Ein 1,90 Meter langer Jugendlicher quält sich am Reck oder Barren nur herum. Von seinem Körperbau her ist er besser für Basketball oder Leichtathletik geeignet. Kleinwüchsige Menschen dagegen haben Vorteile beim Geräteturnen. Wenn Lehrer das berücksichtigten, wären die Schüler sicherlich motivierter.» Das Längenwachstum habe auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit: «Die Herzgröße hält oft nicht Schritt mit der Körperhöhe. Herz und Kreislauf werden stärker belastet», betont Kenntner.
Der Körperbau verändert sich insgesamt. Die Menschen werden nicht nur länger, sie werden auch schmaler: Der Brustumfang nimmt nicht im gleichen Maße zu wie die Körperhöhe. Die Köpfe werden länger, das hat wiederum Auswirkungen auf Augenhöhlen und Augenform. Kenntner befürchtet: «Möglicherweise bekommen wir noch mehr Kurzsichtige.»
Ist dem Größenwachstum eine Grenze gesetzt? Seit Kurzem scheint die Körperhöhe in Deutschland zu stagnieren. Das zeigen die Statistiken der Bundeswehr und die vermessenen Jenaer Schulkinder.
Nach Ansicht des Jenaer Anthropologie-Professors Zellner pendelt sich das Wachstum möglicherweise deshalb ein, «weil es seit einiger Zeit keine nennenswerten Fortschritte mehr in unserem Lebensstandard gibt. Auch zunehmende Kinderarmut könnte eine Rolle spielen.» Sein Kollege Uwe Jaeger meint, dass selbst bei weiterer Verbesserung der Lebensumstände die Anatomie irgendwann an ihre Grenzen stoße: «Bei 1,86 Meter Größendurchschnitt ist Schluss.»
Die Effizienz der «Riesen» ist sowieso umstritten. Zu der Frage «Wie groß muss ein Mensch sein, um seine Umwelt bestmöglich zu meistern?», haben amerikanische Wissenschaftler ein verblüffendes Idealmaß errechnet: Ein Mann brauche nicht größer als 169 Zentimeter zu sein. «Ab 190 Zentimeter wird alles un­ökonomisch. Herz und Kreislauf müssen mehr leisten, das Skelett trägt nicht mehr. Wer 20 Zentimeter größer ist, verbraucht 50 Prozent mehr Energie. Der Nahrungsmittelkonsum steigt um 30 Prozent. Das hat auch negative Auswirkungen auf die Umwelt: Man braucht mehr Ackerland, und der Ausstoß von Kohlendioxid nimmt zu», summiert Kenntner die Auswirkungen des Wachstums.
Wozu ist es überhaupt gut, so groß zu sein? Hat die Evolution hier einen Irrweg eingeschlagen? «Großwüchsige haben eine bessere Erscheinungsform, sie sind repräsentativer», sagt der Industrieanthropologe Jürgens. Das komme in unserer Gesellschaft gut an. Studien hätten gezeigt, dass die Großen sozial im Vorteil seien.
Aber ein repräsentatives oder Furcht erregendes Erscheinungsbild ist nicht alles. Die «langen Kerls» des Preußenkönigs waren prachtvoll anzuschauen, im Kriegseinsatz aber machten sie keine gute Figur. Kenntner: «Dafür haben sie einfach nicht getaugt.»

Sybille Peine

Der Text ist entnommen aus: http://www.bild-der-wissenschaft.de