Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №20/2008

Sonderthema

Alfred Polgar – ein Kaffeehaus-Literat

img1

«Das Kaffeehaus ist ein Laster des Wieners. Es gibt in Wien weniger Alkoholiker und noch weniger Morphinisten, aber viele Kaffeehaussüchtige. Im Kaffeehaus verfliegt die Zeit.
Man spielt dort Karten und Billard, man liest Zeitung, man raucht eine Zigarette, man plauscht, man schreibt Briefe, man trifft sich da mit Leuten, die so interessant sind, dass man sie nach Hause nie einladen könnte. In das Kaffeehaus flüchtet man vor der Familie, vor den Frauen, und nach den Frauen.
Dem Eintretenden tönt ein großes Geschrei entgegen, aus dem er zunächst nur unartikulierte Laute hört, dann in allen Tonarten hervorgestoßene Rufe, die zumeist eine Bekräftigung bedeuten. Näher hinhorchend, vermag man erst genauer zu unterscheiden: Mir gesagt! – Ihm gesagt! – Unter uns gesagt! – Sag ich Ihnen! – No, wenn ich Ihnen sag! – Ich wer’ Ihnen etwas sagen! – Ja, das sagt er! – Was sagen Sie!!»
Viele Literaten haben das Kaffee­haus als Lebensort des Wieners beschrieben. Alfred Polgar hat die kürzeste Version gefunden: «Das Kaffeehaus ist eine Weltanschauung, deren Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen.»
Er fasste sich immer kurz, ob in den Theaterkritiken:
«Die Noten sind von Leo Fall. Charmante Noten. Die Musik ist von Fritzi Massary.»
oder in den Aphorismen:
«Verlorene Liebe – kann man sie wiederfinden? Das hängt davon ab. Es ist was anderes, ob eine Kerze zu Ende gebrannt ist, oder vom Luftzug ausgeblasen wurde...»
oder in seinem Lebenslauf:
«Wurde 1875 in Wien geboren. Mein Vater war Musiker. Ich habe vielerlei studiert und nichts gelernt. War Journalist, Parlamentsberichterstatter, Theaterkritiker. Übersiedelte 1927 nach Berlin und ging 1933 wieder nach Wien zurück. Besondere Kennzeichen: Keine!»
Warum er sich hartnäckig um zwei Jahre jünger machte, bleibt sein Geheimnis. Erst sein Biograf Ulrich Weinzierl fand hundert Jahre später heraus, dass er in Wirklichkeit am 17. Oktober 1873 geboren wurde. Sein Vater hieß Josef Polak – Polgar war der Künstlername des Sohnes – und führte in der Wiener Leopoldstadt eine Klavierschule, die immer nur ein bescheidenes Einkommen brachte. Sechsmal in zwanzig Jahren wechselte die Familie Polak die Wohnung, immer innerhalb der armseligen Leopoldstadt – ein Hinweis darauf, dass es nicht ohne Geldsorgen abging.
Alfred war der jüngste von drei Söhnen: «Zwischen meinem fünf Jahre älteren Bruder Carl Leopold und mir herrschte herzliche und wechselseitige Abneigung. Im Gegensatz zu mir besaß Carl Leopold das absolute Gehör, und so konnte er, amusisch bis ins Innerste, doch dasitzen und Tonarten schlürfen und sie differenzieren wie ein Weinkenner die Sorten, und weil er das konnte, hatte ihn der Vater 33 Prozent lieber als mich, der tausendmal mehr Beziehung zur Musik hatte als der Bruder.»
Trotz der scherzhaften Formulierung hört man die Bitterkeit. Schon der kleine Bub hat die Eigenschaft, die den späteren Autor kennzeichnet: Er kann nicht zubeißen und attackieren. Er .... beobachtet.
«Ich führte unter dem Klavier mit meinem Bruder erbitterte Fußkämpfe um das Pedal. Oh, wie ich ihn hasste! Ich hätte ihm nicht nachgeben, sondern ihn schlagen sollen. Aber so fing es an. Und so blieb es, die Beziehung zum Bruder und die Beziehung zum Bruder Mensch.»
Der Bruder muss ein rechtes Ekel gewesen sein. Er beschützte den fünf Jahre jüngeren nicht, sondern tyrannisierte ihn: «Wir bekamen jeder ein Stück Torte auf unser gemeinsames Zimmer. Er nahm, unter Gewalt­anwendung, auch mein Stück und fraß es auf. Anderntags bekam er, strafweise, überhaupt keine Mehlspeise. Vorher hatte er den Eltern ein bindendes Versprechen gegeben, mir meine nicht wegzuessen. Das hielt er. Er begnügte sich, den Kuchen zu packen und zum Hoffenster hinauszuwerfen. Ich schrieb alle seine Schandtaten in einem eigenen Heft nieder – für den Tag der großen Abrechnung.»

img2

Das Café, das zu den ältesten der Stadt Wien gehört, war eines der Lieblingslokale von Alfred Polgar.

Schreiben statt kämpfen. Die Erfahrung bleibt. Er ist später auch als Erwachsener ein Mensch, der sich nicht gut wehren kann.
Diese zurückhaltende Art hat er nicht nur als Mensch, sondern auch als Schriftsteller. Er ist nie aggressiv, entlarvt aber durch genaue Beobachtung. Bei flüchtigem Hinsehen kann der Leser glauben, er habe es mit Unterhaltungsliteratur zu tun. Dass das ein Irrtum ist, hat schon Franz Kafka bemerkt: «Seine Sätze sind so glatt und gefällig, dass man die Lektüre von Alfred Polgar als eine Art unverbindlicher gesellschaftlicher Unterhaltung hinnimmt und gar nicht merkt, dass man eigentlich beeinflusst und erzogen wird. Unter dem Glacéhandschuh der Form verbirgt sich ein fester, unerschrockener Wille als Inhalt. Polgar ist ein kleiner, aber tüchtiger Makkabäer im Lande der Philister.»
Ein Moralist also. Dazu passt, dass er als Zwanzigjähriger seine ersten Artikel in der Zeitung «Die Zukunft» veröffentlichte, einem vor allem vom Staatsanwalt mit Aufmerksamkeit gelesenen sozialistischen Blättchen.
Freilich – bezahlen können muss eine Zeitungsredaktion auch. So kam es, dass Polgar dann doch zur bürgerlichen «Wiener Allgemeinen Zeitung» wechselte. Der junge Autor Polgar fiel dem Herausgeber der «Fackel» auf, dem berühmten Schriftsteller Karl Kraus.
Ihm hatte vor allem Polgars Besprechung von Wedekinds Stück Lulu gefallen, das damals ein großer Bühnenerfolg war. Diese Besprechung fiel schon deshalb so lebendig aus, weil Polgar, der leidensbereite, seit geraumer Zeit das Opfer einer solchen männermordenden Dame war, und deshalb genau wusste, wovon er sprach.
Eva Rudolf hieß sie und verdrehte zahlreichen bekannten Männern den Kopf, Peter Altenberg, Egon Friedell, Eugen d’Albert. 1916 heiratete sie Gustav von Allesch, 1921 ließ Hermann Broch sich scheiden, weil er Eva liebte. Die Affäre Polgar ereignete sich zwanzig Jahre früher – er lernte sie im Kaffeehaus kennen: «Es wird mir unheimlich und kalt zumute, wenn ich mir vorstelle, mein Leben wäre verflossen, ohne dass ich Dir begegnet wäre. Wenn ich mir etwas von meinem Gott erbitten dürfte, es wäre: Stumm leiden zu können, verbluten zu können mit einem Lächeln auf den Lippen.»
Das Gegenteil war der Fall. Sein Gott gab ihm durchaus zu sagen, was er litt, und das im Überfluss. Eva liebte nämlich immer mehrere Männer gleichzeitig, wie Lulu.
Polgar zu Lulu: «Lulu ist alles und ist nichts, weil sie alles ist. Geht man sie mit großen tragischen Auseinandersetzungen an, so ist sie mit einem Mal ein Kind, ein süßes, seiner unbewusstes Wesen, das so unschuldig Menschen frisst, wie ein Frosch Fliegen. Nimmt man sie als Kind, will sie wie ein zartes Pflänzchen hüten, so stößt man auf einen Satan mit unersättlichen Begierden. Gibt man ihr die Peitsche, will sie Liebe. Gibt man ihr Liebe, will sie die brutale Faust.»
Im Jahr 1903 liebte sie den englischen Pianisten Henry Skeene. Polgar ließ sich auf eine Liebe zu dritt ein und bezog mit dem Paar eine Villa in Döbling. Er muss ziemlich gelitten haben, hielt aber drei Jahre eisern durch. Dann zog Eva nach Berlin.
«Lulu wäre an sich nicht gefährlich, aber in den beschränkten Männergehirnen vollziehen sich tragische Vorgänge. In ihrer Sucht, das nicht zu Bändigende für sich zu bändigen, in ihrem lächerlichen Bemühen, vom Weibe jene Träume verwirklicht zu bekommen, die sich ihnen an der Schönheit der Frau entzündet haben.»
Arthur Schnitzler, der Psychologe und Frauenkenner, hat von Eva Rudolf instinktiv die Finger gelassen. Ihrer Blässe wegen nannte er sie «die Wasserleiche» und beobachtete genüsslich, wie Alfred Polgar sich ins Unglück stürzte. Polgar konnte nur lieben, wenn er dabei unglücklich wurde, und in dieser Disziplin war er besonders begabt. Dazu sein Biograf Ulrich Weinzierl: «Aus zwei Gründen sind diese erotischen Verwicklungen interessant: Zum einen lässt sich Polgars Wesen auch als Schriftsteller, seine Ironie und grandseigneurale Gelassenheit besser verstehen: Als Reaktionsbildung, als Schutz der eigenen Verletzlichkeit, als Panzer gegen die Übermacht der Gefühle. Zum andern wird auf diese Weise die Wechselwirkung zwischen dem Zeitgeist des Fin de Siècle und den Schriftstellern deutlich: Sie lebten Literatur und projizierten ihr Leben auf die Literatur.»
Polgar jedenfalls litt an der Dämonie des Weibes, das ihn mit vielen anderen betrog und von dem er doch abhängig blieb. Gleichzeitig entwickelte sich die abgeklärte Ironie, die seinen Stil kennzeichnet. 1908 hatte er den ersten gro­ßen Erfolg mit dem Sketch Goethe im Examen, den er zusammen mit Egon Friedell verfasst hatte.
Ein Student lernt in der Nacht Goethes Lebensdaten auswendig. Morgen hat er nämlich Examen. Irgendwann wirft er das Buch an die Wand und verflucht den Dichterfürsten.
Goethe erscheint daraufhin höchstpersönlich in seiner Stube und fragt, was er gegen ihn habe. Am Ende verspricht Goethe zu helfen. Er geht an Stelle des Studenten in das Examen über Goethe.

PROFESSOR: Wann wurde Goethe geboren?
GOETHE: 28. August 1749.
PROFESSOR: In?
GOETHE: Frankfort, Großer Hirschgrawe 12, in dem blaue Zimmer im zweite Stock links. Da waare aach die zwää Pendeluhre vom Onkel Rettsch mit die Amorettcher druff, die oi hat de Schorsch kaput gemacht, wie er mit eme Klicker roigschosse hat...
PROFESSOR: Er bezog wann die Universität?
GOETHE: Mit sechzeh Jahr.
PROFESSOR: Er studierte in welchen Städten zu welchen Behufen?
GOETHE: No in Leipzig, dann in Strassburg erscht nix, und nachher die Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte un e bissche Philosophie.
PROFESSOR: Hm?
GOETHE: Na, viel war’s net.
PROFESSOR: Wann verließ Goethe Wetzlar?
GOETHE: Ei, no so um 71 oder 72...
PROFESSOR (triumphierend): Ich frage Sie, wann Goethe Wetzlar verließ.
GOETHE: 72? Jaja, es wird scho so gewese soi, im Winter 72.
PROFESSOR: Kohn, wann verließ Goethe Wetzlar?
KOHN: Am 23. September 1772,
5 Uhr nachmittags mit der Fahrpost.
GOETHE: Ja, richtig, im September mit der Fahrpost.
PROFESSOR: Wann erschien «Hermann und Dorothea»?
GOETHE: 1796.
PROFESSOR: «Hermann und Dorothea» erschien 1797, Sie Ignorant!
GOETHE: Noi, ’s war 96!
PROFESSOR: Hier steht’s drin! Sie insolenter Bursche!
GOETHE: Ja... wirklich! Ich hätt doch druff geschwore, ’s war 96!
PROFESSOR: Nun, ich sehe schon, Daten darf man Sie nicht fragen. Goethes Leben hat Sie nicht beschäftigt. Jetzt will ich schauen, ob Sie wenigstens bei meinen Vorträgen aufgemerkt haben. Was wissen Sie über den Charakter des Tasso?
GOETHE: No, das is e kindischer, hysterischer Mensch, der sich net recht auskennt hat im Lewe, un...
PROFESSOR: Ich traue meinen Ohren nicht! Tasso zeigt den Kampf des Subjekts und seiner Gebundenheit, das, indem es sich in die Objektivität auseinanderlegt, notwendig an der Zerrissenheit des Subjekt-Objekts, das heißt der nach außen projizierten Individualität, scheitern muss.

Klar, dass Goethe durch die Prüfung rasselt. Das Publikum war begeistert, der Sketch brachte es auf über 300 Aufführungen. Und Polgar hatte Spaß an der Paro­die gefunden.
Im Jahr 1913 bestellte Kaiser Wilhelm II. bei Gerhart Hauptmann ein Festspiel zur Hundertjahrfeier der Völkerschlacht von Leipzig. Dem Auftraggeber war das Ergebnis jedoch nicht weihevoll genug. Polgar bot an, Abhilfe zu schaffen: «Napoleon sinkt ohnmächtig zu Boden. Verwandlung auf der Bühne. Auf einem Podest stehen Zar Alexander, König Friedrich Wilhelm III. und Fürst Metternich. Engel halten Lorbeerkränze über die Gruppe. Die Völker Europas huldigen. Der Schlusschor singt den Refrain: ‹Umsonst sind nicht so viel verdorben/ Umsonst sind nicht so viel gestorben/ Hoch hebt die Brust sich Jedermanns/ Hurra, die Heilige Allianz!›»
Das Stück wurde abgelehnt. Selbst die Hohenzollern merkten, dass hier nicht der rechte Ernst am Werke war. Polgar entwickelte indes seine spezifische Art, Lächerliches zu entblößen. Es ging immer ohne aggressive Formulierungen ab. Als 1916 das hurrapatriotische Stück Freier Dienst eines gewissen Leo Feld uraufgeführt wurde, entlarvte er die Dummheit des Dramas dadurch, dass er es einfach nacherzählte: «Wir befinden uns im Aufenthaltsort eines Stabes, wo der Krieg sein freundlichstes, sauberstes, appetitlichstes Gesicht zeigt. Alles ist glatt und schön, nobel und herzlich. Und auch die bösesten Wunden, die der Kampf geschlagen, sekretieren noch Sirup. Durchaus edle Menschen handeln durchaus edel. Ein edler General, mild und stark, geht über den Tod seines Sohnes in anekdotischer Gefasstheit an die Arbeit. Wo er hintritt, da wächst Gras.»
Wo er hintritt, da wächst Gras – kürzer und gehaltvoller kann man eine Figur nicht charakterisieren. Dem Kriegsministerium passten solche Kritiken nicht.
Polgar war im März 1915 als Korporal eingezogen worden, wurde dann aber bald ins Kriegsarchiv versetzt, wo er mit anderen österreichischen Schriftstellern Dokumente ordnete und Aufsätze schrieb. Hugo von Hofmannsthal schrieb zum Beispiel Unsere Militärverwaltung in Polen, Stefan Zweig schrieb Kriegsgefangen und Lebende Kampfmittel, Alfred Polgar wählte das mit Abstand friedfertigste Thema Die Freiwillige Sanitätspflege und schrieb im Text: «Krieg ist Anti-Sanität. Krieg ist nicht nur Wunde, Schmerz, Krankheit. Krieg ist die pflichtgemäße Missachtung von alledem.»
Im Ministerium versuchte man, ihn wieder an die Front zu schicken, damit er seine Aufsätze und vor allem seine Theaterkritiken nicht mehr schreiben könnte, doch da forderte ihn im März 1917 die «Wiener Allgemeine Zeitung» als Parlamentsberichterstatter an, und das blieb er bis zum Ende des Krieges. In den frühen zwanziger Jahren schrieb er für verschiedene Zeitungen wie etwa das «Prager Tagblatt» und war als Theaterkritiker in Wien sehr angesehen.
Kleine Seitenhiebe aufs Feuilleton erlaubte er sich im «Böse-Buben-Journal», das sich mit Freude zwischen alle politischen Stühle setzte: «Aus Russland kommen schlimme Nachrichten. Der Bolschewismus herrscht und das Bürgertum ist an die Wand gedrückt. Mit pietätloser Hand zerbricht der entfesselte Proletarier jede Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit des heiligen russischen Reiches. Vor dem Schreibtisch, an dem einst Iwan der Schreckliche sein gnädiges Szepter über die treuen Russen geschwungen hat, sitzt jetzt ein Lenin und telegrafiert den ganzen Tag an alle, was bei den heutigen Posttarifen allein schon einen Großteil des Nationalvermögens verbraucht.»
In der Rubrik «Der aufrichtige Briefkasten» wurden Leserbriefe beantwortet: «Sie sind ein literarischer kritischer Anfänger und fragen uns: ‹Wie schreibe ich, um von Karl Kraus nicht angegriffen zu werden?› Wir antworten: ‹Gar nicht.› Ein anderes Mittel ist uns, denen diese Frage auch schon manch bitter-nachdenkliches Stündlein bereitet hat, unbekannt.»
Den ersten Bestseller landete Polgar jedoch nicht in Österreich, sondern in Deutschland. An den Rand geschrieben hieß das Buch mit kurzen Polgar-Texten, das 1925 bei Rowohlt erschien und den Autor berühmt machte. Bis 1933 folgte jedes Jahr ein neuer Band, der ebenso erfolgreich war. Polgar galt jetzt als «Meister der kleinen Form».
Natürlich konnte man das kritisieren, wie es Franz Molnar tat: «Warum schreibt er keine Romane? Ich glaube, es graut ihm vor der großen Komposition. Auf mich macht er immer den Eindruck eines ausgezeichneten Sängers, der sich krankhaft davor fürchtet, an die Metropolitan Opera engagiert zu werden.»
Auch Robert Musil bemäkelte die Kürze, jedoch – wie Polgars Biograf herausfand – nur privat in seinen Notizen. Im Nachlass fand sich die Bemerkung: «Es ist leicht, bedeutend zu tun auf einem schmalen Raum, der nicht zu viel Prüfung zulässt. Und er hat das dauernde Bestreben, den Dingen die andere Seite abzugewinnen, das den Autor kleiner Betrachtungen auszeichnen muss.»
Polgar war sich der Fallhöhe bewusst. Als Robert Musil ihn einmal für die «Literarische Welt» interviewt, ein Schriftsteller den andern, kommentiert er: «Ich bin interviewt worden, zum ersten Mal im Leben und überraschenderweise. Der Mann, den die seltsame Laune angekommen war, sich in mir ein bisschen umzusehen und mich als Führer durch mich zu benützen, ist eine höhere geistige Potenz, als ich es bin. Das erschwerte den Fall.»
Die höhere geistige Potenz verglich Polgar mit Wilhelm Busch: «Er lässt die Dinge laufen, wie sie behaupten, es zu können. Er sieht ihnen bloß zu und beschreibt sie. Aber seit Busch hat niemand ihre Misere so boshaft freundlich beschrieben wie er.»
Das ist ein bisschen zu tief gegriffen. Die Technik des bloßen Beschreibens und Zusehens kann auch eine bedeutende Parabel ergeben. Der Text Auf dem Balkon, 1936 in der «Basler Nationalzeitung» veröffentlicht, ist so eine Parabel: «Auf dem Balkon des hoch überm See gelegenen friedevollen Häuschens, dessen Fenster die Sommer-Abendsonne spiegelten, tranken gute Menschen guten Wein. Es war eine Gesellschaft von geistig anspruchsvollen Leuten, bewandert in den Vergnügungen des Denkens, gewohnt, hinter die Dinge zu sehen, nicht nur aus dem Glauben, sondern auch aus dem Zweifel Süßes zu schmecken und an der Wirklichkeit die Unwirklichkeit, die in ihr steckt, wahrzunehmen. Sie auf dem Balkon waren nicht taub für den Jammer der Welt, und wenn ihr Herz auch zuweilen, müde des Gefühls, in harten Schlaf sank, so war es doch ein Schlaf, der sich mit qualifizierten Träumen ausweisen konnte, Träumen von Gutsein oder zumindest Gutseinwollen. Die Aussicht vom Balkon war zauberisch schön, besonders für den Hausherrn, der ein reicher Mann war, vor gemeinen Nöten sicher, soweit das die aus den Fugen geratene Zeit zuließ. Er sah über den kleinen europäischen See hinüber bis nach Südafrika, wo ihm in blühenden Kupferminen die Dividende reifte.»
Als es dunkel wird, sieht man am andern Ufer des Sees wie ein gliederreiches Glühwürmchen die Eisenbahn fahren und in einem Tunnel verschwinden. Eine Dame fand, er sähe aus wie eine Spielzeugeisenbahn: «Das konnte man wohl sagen, ja das musste geradezu gesagt werden.»
Dann kriecht das Bähnlein wieder heraus aus der Erdhöhle und von der entgegengesetzten Seite sieht man einen zweiten Eisenbahnzug sich nähern. Nun geschieht das Überraschende: Die beiden Züge gleiten nicht aneinander vorbei, sondern aufeinander los, Kopf gegen Kopf. Ihre Lichter erlöschen.

img3

«Ein Unglück ohne Zweifel, ein Eisenbahnzusammenstoß. Alle waren aufgesprungen und starrten zu dem Schauplatz der Katastrophe hinüber. Wisse vielleicht jemand von einem ihm Nahestehenden, der Passagier eines der beiden Züge gewesen sein könnte? Nein, glücklicherweise. Nur ganz fremde Menschen fielen der Katastrophe da unten zum Opfer.
Man stelle sich vor: Tote und Verstümmelte, aber gottlob, man sah sie nicht. Jammer und Hilferufe, aber man hörte sie nicht. So verblassten die Unglücksbilder bald wieder.
Und der Wein in den Gläsern wurde durch sie nicht sauer. ‹Von weit gesehen›, sagte die Dame, ‹schien selbst der Zusammenstoß eine Spielzeugaffäre.› Damit kehrte das Gespräch zwanglos zu den früheren Themen, die eines politischen Beigeschmacks nicht entbehrten, zurück.»
Was kümmert die Schweizer das Dritte Reich? Eine elegante Diagnose des «Meisters der kleinen Form». Aber unter dem Glacéhandschuh der Form, so hatte schon Franz Kafka erkannt, verbirgt sich ein fester Wille. Freilich – der war nur literarisch. Beim Gerangel um Aufträge geriet der unkämpferische Polgar ins Hintertreffen. Nun zeigte es sich, dass er wirklich gute Freunde hatte, die ihn unauffällig unterstützten.
Die Sängerin Fritzi Massary zahlte einen längeren Krankenhausaufenthalt. Marlene Dietrich schickte wiederholt Geld nach Wien. Polgar, der mit 56 Jahren endlich geheiratet hatte, eine Witwe namens Elise, musste Berlin 1933 verlassen. Er zog in seine Heimatstadt Wien. Aus Deutschland kamen keine Aufträge mehr, das Geld war knapp im Hause Polgar. 1938 floh das Ehepaar nach Paris, 1940, wie so viele Emigranten, zu Fuß und illegal über die spanische Grenze. Immerhin – er war berühmt genug, um ein Visum für die USA zu bekommen, Thomas Mann setzte sich dafür ein, dass er einen Lohnschreibervertrag bei Metro Goldwyn Mayer bekam. Nach seiner Ankunft in Hollywood schrieb Polgar an seinen Freund William Schlamm: «Lieber Freund. Wir haben’s hier schön und angenehm, einen living-room und zwei Schlafzimmer, das meine mit einem kompakten Arbeitstisch, an dem einem Schriftsteller, dem etwas einfiele, schon etwas einfallen könnte. Am empfindlichsten ist der Mangel eines Autos, denn die Distanzen sind gewaltig, die Fortbewegung zu Fuß unmöglich und öffentliche Verkehrsmittel gibt es nur ganz wenige. Für jeden notwendigen Weg, z. B. zum Arzt, müssen wir jemanden telefonisch bitten, dass sein Auto sich unserer erbarme. Das ist lästig für uns wie für den, den’s trifft. Derzeit geht in unser Budget ein Auto, selbst das schäbigste, nicht hinein, umso weniger, als ich mir einen Englishteacher leiste, den ich sehr liebe, und der bei mir schon recht nette Fortschritte in deutscher Sprache macht.
Wir sehen an Bekannten die Franks (2 Autos), Fritzi Massary (1 Auto), Familie Bruno Walter (3 Autos), Leonhard Frank (schwanger mit 1 Auto) und noch andere Autos mehr, die jedes einen Menschen haben. Viele Sprünge kann ich mit meinem Einkommen nicht machen, aber wer will denn schon springen? Ich empfinde es hier wie eine Art Leben nach dem Tode.»
Das Glücksgefühl, mit dem Leben davongekommen zu sein, hielt natürlich nicht jahrelang an. Er hatte einen Autorenvertrag bei einem Filmstudio, aber das stand nur auf dem Papier – für den Künstler eine unbefriedigende Lösung: «Ich sitze tagsüber im Studio bei Metro Goldwyn Mayer und mit diesem Dort-Sitzen ist auch meine Arbeit so ziemlich erschöpft. Ich bekomme nicht die kleinste Gelegenheit, weder mich zu blamieren, noch mich auszuzeichnen. Man nimmt von meinem Vorhandensein keine Notiz.»
1943 zog er von Hollywood nach New York, Lisl Frank, die Frau des Schriftstellers Bruno Frank, vermittelte ihm die Übersetzung erfolgreicher amerikanischer Bühnenstücke ins Deutsche, William Schlamm die Mitarbeit bei einer deutschsprachigen Zeitung. Die Einkünfte waren bescheiden. Erst 1949 konnte Polgar, 76-jährig, wieder nach Euro­pa zurückkehren. In Wien nahm er nur vorübergehend Aufenthalt: «In den Häusern, die hier standen und nun liegen, wohnten zumeist Juden, und wer, vorbeipassierend, denkt, was ihnen geschah, ist versucht, es in Ordnung zu finden, dass jetzt niemand mehr dort wohnt, außer in den Fensterhöhlen das Grauen. An dieser beklemmenden Gegend vorbei führte mein Weg zum Hausmeister, von dem ich etwas über das Schicksal einer nahen Verwandten zu erfahren hoffte. Er unterbrach einen Augenblick das Geschäft des Flurfegens und sagte: ‹Die? Die haben’s abgeholt!›, und setzte seinen Besen wieder in Schwung, um weiter den Flur zu fegen.»
Die nahe Verwandte war seine Schwester Hermine – aber Polgar blieb, wie immer, diskret im Ton. Glacéhandschuh nannte das Franz Kafka. Das Understatement war Polgars Stil. Den behielt er auch bei, als er den Preis für Publizistik der Stadt Wien erhielt: «Die Zeitungen und das Radio machen ein Getue mit mir, als sei der Lieblingssohn der Stadt heimgekommen. In Österreich ist ein empfindlicher Mangel an zeitgenössischen Klassikern ausgebrochen, da musste ich eben herhalten.»
Leben will er nicht mehr in Wien, das hat er mit vielen Emigranten gemeinsam: «Die Fremde ist nicht Heimat geworden. Aber die Heimat Fremde.»
Er wählte Zürich als Wohnsitz, lebte aber sehr bescheiden. Bei Rowohlt erschien 1953 das Buch Standpunkte und 1954 Im Lauf der Zeit, doch Bestseller, wie damals in den Zwanziger Jahren, wurden seine Bücher nicht mehr.
«Immer wieder höre ich von meiner Frau den Wunsch, einmal im Leben möchte sie unabhängig sein von Freunden und Wohltätern. Mir tun solche Äußerungen natürlich weh, denn schließlich ist es meine Schuld, dass ich ihr, seit wir 1938 aus Wien fortmussten, diese Unabhängigkeit nicht verschaffen konnte. Was hätt’ ich tun sollen? Ich war schon zu alt, um in der Fremde ein neues Geschäft anzufangen als meine arme Schriftstellerei. Und so wurde ich als Geldverdiener ein Versager ersten Ranges.»
Als Meister der kleinen Form jedoch blieb er ein Künstler ersten Ranges. Als er starb, am 24. April 1955, hinterließ er seinen eigenen bezaubernden Nachruf – mit leichter Hand und an den Rand geschrieben, wie alles, das aus seiner Feder kam.
«Hochbetagt, friedvoll, unverheiratet und lebenssatt ist er gestorben, in den Armen seiner entzückenden jungen Freundin, deren Eifersucht ihn nicht abhalten konnte, aus seiner unerschöpflichen Zärtlichkeit auch an viele andere bezaubernde Frauen zu verschenken, die nach ihm begehrten. Er schlief schmerzlos hinüber, weil es ihm langweilig war, immer wieder morgens aufzustehen, sich die Zähne zu putzen, zu waschen, anzuziehen und im dialektischen Labyrinth des Daseins noch und immer noch ein paar nutzlose, nie zu einem Ausgang führende Schritte zu stolpern. Wir versagen es uns, das Genie und die Arbeit dieses glänzenden, einzigartigen, wahrhaft überlegenen Mannes zu rühmen, weil wir wissen, wie unendlich geringschätzig er über Ruhm und Nachruhm dachte.»

Autorin: Susanne Tölke
Redaktion: Petra Herrmann
© Bayerischer Rundfunk

Der Text ist entnommen: http://www.br-online.de