Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №16/2008

Sonderthema

Ludwig Thoma – Heimat und Welt

Ludwig Thomas Verdienst ist es unzweifelhaft, dass er die einfachen Leute, die Armen, die Verlierer und vor allem die Bauern literaturfähig gemacht hat. Mit lustvollem Wohlwollen erinnern sich wohl viele an den Pfarrer Kindlein, an den Münchner im Himmel oder an Tante Frieda. Auch der Abgeordnete Filser mit seiner eigenwilligen Rechtschreibung ist beinahe ein Klassiker der komischen Literatur geworden. Thoma ergeht es wie vielen großartigen Dichtern: Seine Werke sind bekannt, seine Person selbst aber bleibt merkwürdig verschwommen. Wer war denn der Junge vom Tegernsee, der – früh verwaist – Jura studierte, mit satirischen Texten das Vorkriegsdeutschland ab 1900 unterhielt und beeindruckende Bilder bäuerlicher Persönlichkeiten entwarf? Kann es sein, dass dieser scharfsinnige und ebenso scharfzüngige Intellektuelle ein chauvinistischer Weiberheld und engstirniger Judenhasser war?

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Geburtshaus des deutschen
Dichters Ludwig Thoma
in Oberammergau

Das Forsthaus an der Tiroler Grenze, die Isar, die Flößer und der König Ludwig dann und wann zu Gast. Vater Max als königlicher Oberförster; die Mutter führt die Wirtschaft, wenn Sommerfrischler kommen.
Ludwig Thoma: «Man lernt nur in einer solchen Abgeschiedenheit das Vergnügen am Kleinsten kennen. Wie viel Freude brachten damals die illustrierten Wochenschriften in das Forsthaus! Dazu Pfeife und duftender Kaffee und ein Kreis von Menschen, die gewillt waren, die Nachrichten aus einer fernen Welt mit Interesse zu hören und sich dabei in ihrem Winkel erst recht wohl zu fühlen.»
Hätt’ schon sein können, dass unser Ludwig Thoma ein verhockter Rechtsanwalt und Vereinsspießer geworden wäre. Das Zeug dazu hatte er, doch dann nahm er lieber die deutschen Spießer auf die Schippe: All seine komischen Geschichten werden im Bürgermilieu spielen, all seine ergreifenden unter Bauern.
Und er selbst wird nirgends dazugehören.
Denn der kleine viereckige Mann, dessen Vater ein Baum von 1,85 m war, wird von klassischen Minderwertigkeitskomplexen gebeutelt: er will nach oben und sucht unten Zuflucht. Das Haus überm Tegernsee, erbaut im Großbauern-Stil, soll seine Fliehburg werden. Dort wird ihn erst recht die Einsamkeit einholen.
Das stille Behagen im Familienkreis war jäh zu Ende gegangen, als der Vater mit 52 am Herzschlag starb und der siebenjährige Ludwig zu Verwandten in die Rheinpfalz abgeschoben wurde. Von da ins Studienseminar Neuburg/Donau, wo er durchfiel, dann nach Burghausen expediert, dann ans Münchner Wilhelms-Gymnasium, wo er abermals sitzenblieb.
Wohnen musste er bei weitschichtig Verwandten «in Pension», allein und fremd. Er ging nach Landshut, schaffte die «Matura», zog nach Aschaffenburg, um Forstwirtschaft zu studieren, und wechselte abermals, diesmal zur juristischen Fakultät nach München, wo er einer schlagenden Verbindung beitrat. Er soff, war faul und liebte sein Vaterland, schimpfte auf Frankreich und auf die Juden. Schon in Aschaffenburg war er in der Verbindung gewesen, ließ sich mit Schmissen auf der Wange fotografieren und trank Bier wie ein Held: «Und wenn wir dann vom Fechtboden heimkehren, sind alle Fenster dicht besetzt, und die Helden des Tages sind die, welche möglichst viele Compressen tragen.»
Nun, in München, trat er demselben Korps bei, in dem sich schon sein baumlanger Vater «einen guten Namen als Schläger» gemacht hatte. Aber der kleine Sohn versagt. Er zuckt beim Fechten: einmal, zweimal – und wird für immer aus dem Korps gewiesen. Von da an werden seine literarischen Opfer die Korpsstudenten und die Juristen. Er promoviert mit der Note «ausreichend», gibt seine Dissertation aber nicht ab; den Doktortitel führt Thoma nicht ganz zu Recht.

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Ludwig Thoma. Porträt
von Thomas
Baumgartner. 1911

Zunächst wird er Praktikant in einer Münchner Anwaltskanzlei, bei zwei Juden. Noch immer auf dem Weg, ein guter Untertan zu werden, hat er seinen Stammtisch in der «Wurstküche», und Frauen hat er zum Hormonaustausch: «München, 25.2.1893. Lieber Herr Assessor! Einmal war ich auf Redoute mit Freikarten. Ich unterhielt mich für meine Person sehr gut und sehr billig. Und seit der Zeit habe ich ein angenehmes Verhältnis und weiß, wo ich zwei Abende der Woche nach Luthers goldener Regel verbringen kann. Neulich war ich in der Antisemiten-Versammlung. Es war ein Riesenradau. ... Die Sozialdemokraten sind sehr gut organisiert; verrückte Ideen, aber festes Zusammenhalten und zielbewusstes Vorgehen.»
Fünfundzwanzig ist Thoma – und ein ganzer Spießer. Der Försterbub aus der Vorderriß, klein mit Riesenohren – was soll er in diesem München! Er geht nach Dachau, wo’s noch keinen Anwalt gab – und vereinsamt erneut. Keine Kundschaft, keine Freundschaft: «Seit dem Tode meiner lieben Mutter habe ich in mir ein so starkes Gefühl der Verödung, dass ich viele sehr unangenehme Stunden und Tage verlebe.»
Weil er in seiner Kanzlei nichts zu tun hat, liest er: Fontane, Wilhelm Busch, Dickens, Gottfried Keller und viel Historisches, Politisches; sein Hausgott wird Bismarck, der das Deutsche Reich gegründet und das slawisch vermanschte Österreich dazu hinausgeschmissen hat.
In Dachau verfasst Thoma Kommentare für die «Augsburger Abendzeitung», worin er die sozial­demokratischen Positionen zerpflückt, und er arrangiert die 25-Jahres-Feier des Sieges von 1871. Mit ihm als Festredner.
Es wird ein Triumph. Seine große lange Rede auf dem Marktplatz bebt von nationaler Kraft und blondlockiger Friedensfreude mit gezücktem Schwert: Ein Schwulst, ein Schwall, ein Kitsch­geschwätz.
Von den Ovationen in Dachau berauscht und vom Aufsehen seiner Zeitungsartikel entflammt, will er nun doch die Stadt er­obern: «Ich bin also endlich und hoffentlich endgültig Großstädter. ... Du lieber Gott! Es gibt so viele Leute hier, sollten denn da keine in die Kanzlei des neugebackenen Münchner Anwaltes kommen?...»
Mit 30 lernt er ein strammes Mädchen kennen, eine 16-Jährige mit enormer Büste. Sie ist Tochter eines Nürnberger Getreidehändlers und Kommerzienrates. So könnte unser Ludwig also in die Welt der Geldigen eintreten und pralle Brüste noch als Zuwaage bekommen. Da begeht der Großkaufmann einen Fauxpas: Er drückt dem armen Rechtsanwalt beim Verabschieden einen Zehner in die Hand: «Ich habe daraufhin das Frauenzimmer links liegen lassen.»
Im Einakter Die kleinen Verwandten werden wir den Personen der missratenen Handlung später wieder begegnen, im Gedicht Gleichgültigkeit entdecken wir den wurschtig schnarchenden Fleischbetatscher Ludwig Thoma:

«Als ich gestern lag in meinem Bette,
Klopfte es so gegen Mitternacht.
Meine Meinung war, es sei Jeanette,
Und natürlich hab ich aufgemacht.
Leise kam es jetzt hereingeschlichen,
Setzte sich an meines Bettes Rand,
Hat mir über meinen Kopf gestrichen
Mit der ziemlich großen, dicken Hand.
Doch ich merkte bald an ihren Formen:
Dieses Weib ist ja Jeanette nicht,
Deren Hüften nicht von so enormem
Umfang sind und solchem Schwergewicht.
Trotzdem schwieg ich. Denn ich überlegte:
Nicht das Wer; das Wie kommt in Betracht,
Außerdem, die Absicht, die sie hegte,
War entschieden löblich ausgedacht.
Was bedeutet dieserhalb ein Name?
In der Liebe ist das einerlei.
Man verlangt nur, dass es eine Dame
Und von angenehmem Fleische sei.»

Gegen Ende seines Lebens räumte er selbst verwundert ein, dass sich in seinem ganzen Werk keine einzig gute Liebesgeschichte finde.
Wozu Frauen? Na freilich, um miteinander ins Bett zu gehen und, falls es, wie bei den Bauern, sein muss, auch um Kinder zu erzeugen. Das geht mit und ohne Ehe: «Ich schreibe für Erwachsene und Freie. Ich überlasse es den impotenten Trotteln, für die ‹Familie› oder für dumme Backfische zu schreiben.»
Die Liebe kommt bei alledem nirgends vor.
Weil der vom sechsten Jahr an vater- und dann mutterlose Ludwig einfach nicht weiß, was das sein soll. Und da ihm also die weite Welt der Liebe verschlossen war, wählte er die enge Welt der Bauern als Ideal: Er haute den dekadenten Städtern das ‹gesunde› Bauerntum aufs Maul, bog seinen Defekt zum Makel weichlicher Stadtfräcke um.
Bei den Bauern, so teilt er uns in mehreren gewissermaßen saukomischen Geschichten und im Einakter Brautschau mit, da schaut man beim Werben vor allem aufs Sach: Was im Stall steht, wie viel Hochzeitsgut, welche Liegenschaften. Anders als beim Viechhandel darf die Braut notfalls einäugig sein oder schwach im Kopf, solang die Mitgift hinhaut und sie trächtig zu werden vermag. Thoma nennt das einen gesunden Standpunkt.
Der Mann ist auf der Flucht vor sich und den Verhältnissen, in die er mittlerweile hineingeraten ist. Denn er ist nun Mitarbeiter und rasch Chef des «Simplicissimus», der eben gegründeten und schon meistbelachten und gefürchteten Zeitschrift des Kaiserreichs, an der die bekanntesten Dichter und die besten Karikaturisten mitarbeiten.
Und Thoma war nun der Kopf dieses Blattes: 832 Beiträge schrieb er in 23 Jahren für den «Simpl» und geriet dabei in einen wahren Schaffensrausch und bewunderte sich selbst: «Ich korrespondierte mit allen möglichen Malern und Schriftstellern, machte Besuche, trieb die Herren zum Zeichnen an und verfasste nebenbei elf Beiträge für das Heft...»
Schrieb er im März 1900 an seine Kusine, und an seinen nach Paris emigrierten Verleger Langen, dessen Geschäfte – den Simpl betreuen, Sondernummern herausgeben, den Buchverlag in Schwung bringen und für den Theaterverlag ein paar Stücke schreiben – Thoma in München besorgen muss: «Ich bin geladen mit Humor und freue mich auf die Arbeit. Himmelsakrament. Der Erfolg der Wilhelm-Busch-Nr. machte mir Spaß. Die 2. Auflage ist fast ausverkauft: 60 000! ... Ich habe verschiedene Pläne im Koppe, so verdammt viel. Ich bin jetzt bis zum Rand gepfropft mit den übermütigsten Ideen, denn ich bin so saufidel, so sauglücklich. Ich kann Ihnen das gar nicht beschreiben. – Was schreiben Sie für einen Schmarren von unseren Streitigkeiten? Halten Sie mich für ein Arschloch? Bin ich nicht. Sollten wir wieder zusammen sein, streite ich wieder, Sie Nationalheros, Sie Germaniens ach so treuer Sohn, Sie Zipfel!»

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Als ob er den Raum gerade verlassen hätte! Das Arbeitszimmer in seinem Haus oberhalb des Tegernsees in Rottach-Egern, wo er 1921 starb.

Ein Mann in seinem Element, endlich am Ziel. Und doch nimmt Thoma an allem nur von außen teil, als Stubenschreiber. Überall Künstlerkneipen, Promiskuität in Ateliers, doch Thoma ist nirgendwo dabei! Die größten Künstler sind Mitarbeiter des Blattes, von der Reventlow über Mühsam bis Thomas Mann und Rilke, doch der Chef Thoma meidet ihre Kreise.
Er hat noch immer Angst vor Eleganz und vor den Intellektuellen, und 1904, nach Fertigstellung der Lausbubengeschichten, worin er ja auch den höheren Ständen eins überbrät, möchte er aus seinem Zwiespalt ein Theaterstück machen: «Ich will zeigen, wie ein gesunder braver Kerl mit reicher künstlerischer Anlage nicht in die reichen Kreise Deutschlands passt. Wie ihn hier alles abstoßen muss. Es sind andere Menschen und es ist eine andere Welt.»
Es fällt auf, dass seine Freunde allesamt Zeichner sind, kein einziger Literat. Bloß mit dem Georg Queri ist er befreundet – und mit dem Erfolgsschriftsteller Ganghofer, dessen Berg-und-Wiesen-Romane für ihn keine Konkurrenz darstellen: «Die Herren Dichter fühlten sich wohler, wenn sie unter sich waren.»
Ihnen und ihren Diskussionen zog Thoma die harmlose Runde der Zeichner vor, mit denen er 1904 sogar eine Tour nach Algerien und Tunesien machte, zurück über Italien: größtenteils per Rad. Eine gewaltige Leistung!
Ende 1901 war er schon mal nach Berlin ausgebüchst, für beinah ein halbes Jahr – hatte in Frack und Lackschuhen Tanzfeste besucht als gefeiertes Original und war sogar in die jüdisch dominierten Salons gegangen – denn, so stöhnte er selig, sie «sind alle ganz verliebt in mich»!
Begeistert meldet er nach Hause: «Vorerst schwärme ich gar nicht mehr für München; mir kommt im Vergleich zu hier alles so klein vor.»
In der Fremde blüht er auf, fern den Zusammenhängen seiner trüben Anfänge, der beschämenden Vergangenheit, fern auch von Haferlschuhen und langhaarigen Schwabingern. Konträr zu Oskar Maria Graf streift Thoma sofort die Heimat mit der Joppe ab, um frei atmen zu können, oder aber er verkriecht sich in übergroßer Nähe zu den Bauern: Clinch oder Totaldistanz.
Nach den triumphalen Erlebnissen in Berlin reist er zu seinem Verleger nach Paris. Und wieder ist er trunken von der Stadt, den berühmten Leuten, denen er vorgestellt wird und – wie sich das gehört für einen Provinzler – von den Damen:

Nicht bloß außen – nein! auch unterm Kleide
Strebt man schön zu sein bei den
Französchen;
Knisternd rauscht des Unterrockes Seide,
Und mit Spitzen sind geschmückt die
Höschen.

Bei der Feier seines Bauern-Romans Andreas Vöst in seiner Schwabinger Wohnung fällt ihm eine rassige Fremde auf, sicher im Besitz von Spitzenhöschen: die Kabaretttänzerin Marietta de Rigardo, geboren als Maria Trinidad de la Rosa auf den Philippinen, zurzeit allerdings Frau Schulz, da verehelicht mit dem Berliner Kabarettbesitzer. Thoma kauft sie dem lungenkranken Gemahl ab, landet mit Marion, wie er sie nennt, seinen Hattrick: 1. heiraten, 2. ein Rassepferd, dass den Schwabinger Möchtegern-Bohemiens die Augen aus den ondulierten Köpfen fallen und den Bauern sowieso,
3. eine, die aus der ängstlich verachteten Boheme kommt und doch ein Kind ist, wie er sie gerne nennt.
Max Slevogt hat sie in Öl gemalt, tanzend, mit nackten Schultern, schwarzem Haar. Der Kunstkritiker Oskar Bie schwärmte in seiner Zeitung so von ihr: «O Marietta, wer deinen schlanken Leib sah, wie er sich, vom grünen Kleide überhaucht, in süßer Lust warf, wer es sah, wie deine braune Haut sich spannte...»
Dieser Leib und die Haut gehörten jetzt jedenfalls dem Thoma Ludwig, und er nahm sie mit in sein Haus am Tegernsee, zu den Bauern.
Immerhin ließ er sich einen Tennisplatz anlegen und kaufte einen weißen Panamahut: «Wenn wir Tennis spielen, ist immer große Gesellschaft da. Ich glaube, das Viehzeug fährt eigens herüber, um Marion anzuglotzen und sich die Frau zu zeigen, ‹die mit dem Thoma durchging›...»
Sie ging bald auch ihm durch. Was man verstehen kann. 1907 heirateten sie, Anfang 1910 hockt er nur mehr düster brütend über seinen Büchern, im August erfährt er von ihrem Ehebruch, man lässt sich scheiden.
In seinen Erinnerungen kein Wort über sie. Dafür finden wir sie an vielen Stellen seines Werkes: als «Cora» in den Lausbubengeschichten, motivisch in seinem Drama Magdalena, das – nach seinen Worten – von einer «armen, dummen Person» handelt, die «in der Stadt schlecht wurde». Im Waldfrieden als Hausdrachen, der alle Männergemütlichkeit ruiniert, aber dafür «fließend Französisch spricht und anerkannt gut Klavier» spielt. Und in einer Episode der Onkel Peppi-Geschichte erkennt man den Kern der Ehetragödie Thomas: «Es war der Aufenthalt in diesem öden Dorfe, den sie nie, nie gebilligt hatte. ... Aber nein! Man musste sich in Oberbayern ankaufen, man musste die­se sentimentale Anhänglichkeit an die sogenannte Heimat über alle anderen Rücksichten stellen, und nachdem man einmal dieses grässliche Landgut gekauft hatte, musste man Sommer für Sommer mitten unter den Bauern zubringen, alle höheren Genüsse entbehren, sich von der Gesellschaft zurückzie­hen – Ach!»
Eine späte, bittere Einsicht. Er vergräbt sich ganz und endgültig in seinem Prachtbauernhaus und verdüstert Tag um Tag. Wieder hatte er versagt, diesmal als Ehe-gatte einer so lebenszugewandten Frau.
Je weiter ihm sein Heim zerrinnt, desto stärker gräbt sich Thoma in die Heimat ein. Die «große Welt» – was war das schon? Ehebrecher, Juden und Sozis, Schwabinger, Schlawiner – lauter Nullen!
Es wurde mit einem Mal sehr einsam um ihn. Seine engsten Simpl-Kollegen waren mitten in ihrer schönsten Zeit gestorben; rasch danach riss es auch seine zwei liebsten Freunde weg: 1907 starb der Simpl-Cartoonist J. B. Engl, mit 40 Jahren. 1908 folgte ihm Rudolf Wilke, 34-jährig. 1909 starb, mit 40, der Verleger Albert Langen, zwei Wochen später der Zeichner und Italien-Mitradler Ferdinand von Rezniček, ebenfalls mit 40. Bloß drei Jahre älter wurde Thomas bester Freund Ignaz Taschner, der 1913 folgte. Im Jahr drauf Michl Dengg, der Leiter der Tegernseer Bauernbühne, sein Nachbar und Freund aus Egern. Er immerhin wurde 50.
Die Freunde tot, die Frau davon, das Haus verwaist, nun kam der Krieg.
Und Thoma klinkte aus. Der seit je in ihm rumorende Deutschnationalismus brach sich Bahn: Thoma spie heißes Eisen und schnaubte Blut. Hatte er früher jeden Krieg als dreckiges Verheizen des Volks durch adlige Laffen verhöhnt, so kannte er nun keine Klassen mehr – und keinen Bahnhof. Er peitschte auf zum Dreinhauen, zwang den «Simplicissimus» zum totalen Kurswechsel, gab Sonder-hetzblätter heraus, verfasste Flugblätter zur moralischen Aufrüstung gegen den Feind, den er als freiwilliger Sanitäter fünf Monate lang aus der Nähe sah, unter anderem in Galizien: «...diesem verwahrlosten Paradies der Jesuiten und Juden».
«Unter mir das brennende Gorlice..., der Einschlag der Granaten auf allen Punkten rundherum. Herrgott, ist das schön!» «Wie viele tausend gefangene Russen wurden an mir vorbeigetrieben. Tiere mit bösartigen, dummen Gesichtern. ... Und mancher lieber deutscher Kamerad hat sich von mir heben und tragen lassen und mancher legte mir die Arme um den Hals, vertrauensvoll wie ein Kind. Darüber bin ich im Herzen froh...»
Übrigens begriff er das herrliche Stahlbad des Weltkriegs rasch als Möglichkeit, all diesen Künstlern, die ihn so verunsichert hatten mit ihren Caféhausdebatten, nun eins überzubraten.

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Ludwig Thoma.
Karikatur von dem
Maler Gulbransson

Hans Aff, der Künstler und Ästhet,
merkt, dass sich nichts
mehr um ihn dreht.
Dies Volk, dem er im
Ganzen wohlgewollt,
dem er erlaubt, dass
es ihm Beifall zollt,
jetzt drückt es seinen Gönner an die Wand,
weiß nichts von ihm, denkt nur ans Vaterland,
an Krieg und Sieg und raue Männerschlacht.

Die raue Männerschlacht, sie ging ganz fürchterlich verloren. Die «Hosenscheißer, Dreckhunde, Scheißkerle, Jammerlappen», wie er seine nicht so kriegsbesoffenen Redaktionskollegen genannt hatte, waren richtig gelegen mit ihren Einwänden – Thoma hatte abermals versagt, und mit Entsetzen sah er nun jene «Visagen» aus dem Osten in sein Land vordringen, die ihm immer schon ein Greuel gewesen waren: die «verdreckten» Polen, die «vertierten» Russen, die «galizische Pest» der Juden. Nun endlich nimmt er den Kampf gegen sie auf. Freilich in verdeckter Feldschlacht, in 176 anonymen Hetzartikeln, die er alle während eines Jahres für den «Miesbacher Anzeiger» hinsaut. Erst sein Tod im August 1921 beendet das dreckig gewordene Hand- und Mundwerk.
Was ist da passiert mit Thoma? Zwar war er nie ein Judenfreund, aber das bewegte sich in den üblichen antisemitischen Gedankenlosigkeiten und Stammtisch-Stereotypen. Es kam allerdings sein Angstneid hinzu – erst auf die (besseren) jüdischen Anwälte, dann auf die (eleganteren) Ästheten Schwabings. Drittens war die Revolution tatsächlich stark, ja in Bayern fast ausschließlich von Juden geführt worden, von «landfremden» obendrein, aus Russland, Galizien oder aus Berlin, was für Thoma mittlerweile auch nicht besser war: «Was von Berlin bleibt, ist Rohheit, Jahrmarktgeschrei, gemeine Vergnügungssucht. ... Die Seite einer Berliner Zeitung: Von links oben bis rechts unten Anzeigen von Tanztees, Preistangos, Kabarettvorstellungen. Die Welt geht unter im Apollotheater, Deutschland geht unter draußen vor den Toren Babylons.»
«Welch ein Spießer!», stöhnte Tucholsky über sein literarisches Vorbild Ludwig Thoma: «Das also ist der Mann, der im Gefängnis sitzen musste, weil er das Heiligste, wo der Deutsche hat, beleidigt haben sollte – das ist der Mann, der in den kleinen Städten fast so etwas wie ein Bürgerschreck gewesen ist? ... Welch ein Spießer!»

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Max Slevogt: Bildnis der Tänzerin Marietta di Rigardo

Wo alles kaputt war und verloren, blieb nur die rückwärts gewandte Sehnsucht, literarisch der wehmütige Blick in die Vergangenheit – und privat ein waidwundes Heulen über das so ganz und gar «verpfuschte» Leben.
Thoma schreibt seinen großen Bauernroman Der Ruepp und den weit zurück ins Behagliche gewandten Roman Münchnerinnen; schließt seine Erinnerungen ab und quält sich selbstzerfleischend mit der neu entdeckten Liebe von einst: zu Maidi von Liebermann, geborener Feist-Belmont.
Einer Jüdin, mit einem Juden verheiratet. Aber Thomas Antisemitismus bezog sich nicht auf die großbürgerlichen, quasi «deutschen Juden», sondern auf die Umstürzung der Werte durch «galizische Kunstscharlatane».
Maidi von Liebermann, der er in seinen letzten drei Lebensjahren fast 850 Briefe schrieb, und die empört war über seine Hetzereien, versichert er mehrmals, er sei «kein Antisemit», im Übrigen aber weint er sich hemmungslos aus: «Verpfuschtes Leben. Verlorenes Leben.» «So viele Jahre einsam, von Reue zerfressen, ach, wie dürste ich nach einem lieben Worte. Mein Herz ist so wund, so zerrissen; wer darf Dich hindern, gütig gegen mich zu sein?»

Vierzehn Jahre zuvor hatte er sie kennengelernt, aber nichts unternommen, sie zu gewinnen: «Ich hatte die Scheu der Kleinen vor Reichtum. ... Du warst ein Stern, warst aus einer anderen Welt.»

Autor: Michael Skasa
Redaktion: Petra Herrmann
© Bayerischer Rundfunk

Fragen zum Text

1. Wo steht Ludwig Thomas Geburtshaus?
2. Was war Ludwig Thomas Beruf?
3. Wann kam Thoma vermutlich zum ersten Mal in engeren Kontakt zu Juden?
4. Bei welcher Gelegenheit kam Thoma mit Weltliteratur in Kontakt?
5. Warum heiratete Thoma nicht die wohlhabende Tochter eines Nürnberger Kommerzienrates?
6. Warum war Thoma mit seiner späteren Frau Marietta unglücklich?
7. Warum entsprach die Arbeit im «Simplicissimus» Thomas Wünschen?
8. Weshalb wurde Thoma später zum deutschnationalen Hetzer?
9. War Thoma durch und durch Antisemit?
10. Wie heißen einige bekannte Werke Ludwig Thomas?

Fragen & Antworten im Überblick

1. Wo steht Ludwig Thomas Geburtshaus?
Lösungshinweis: Ein Forsthaus an der Grenze zu Tirol, in der Nähe des Tegernsees.

2. Was war Ludwig Thomas Beruf?
Lösungshinweis: Er hatte Jura studiert, aber den Doktorgrad nicht erreicht. Er war Anwalt.

3. Wann kam Thoma vermutlich zum ersten Mal in engeren Kontakt zu Juden?
Lösungshinweis: In einer Münchner Kanzlei, wo er nach seinem Studium arbeitete.

4. Bei welcher Gelegenheit kam Thoma mit Weltliteratur in Kontakt?
Lösungshinweis: In seiner Kanzlei in Dachau hatte er wenig Arbeit, aber viel Zeit zum Lesen.

5. Warum heiratete Thoma nicht die wohlhabende Tochter eines Nürnberger Kommerzienrates?
Lösungshinweis: Er fühlte sich minderwertig, weil ihm deren Vater ein Almosen zustecken wollte.

6. Warum war Thoma mit seiner späteren Frau Marietta unglücklich?
Lösungshinweis: Sie war untreu und passte nicht in seine Lebenswelt.

7. Warum entsprach die Arbeit im «Simplicissimus» Thomas Wünschen?
Lösungshinweis: Er konnte vielen gesellschaftlichen Gruppen zynisch entgegentreten: Den Korpsstudenten, den Juden, den politischen Gegnern, den Geistlichen, den Frauen.

8. Weshalb wurde Thoma später zum deutschnationalen Hetzer?
Lösungshinweis: Er fühlte sich von allen (Ehefrau, Freunden) verlassen und vereinsamt. Deshalb brach sich seine angestaute Wut Bahn.

9. War Thoma durch und durch Antisemit?
Lösungshinweis: Wahrscheinlich nicht. Sein Hass richtete sich gegen die bürgerlich überhebliche Schicht der Intellektuellen. Er umwarb stattdessen eine Jüdin, Maidi von Liebermann.

10. Wie heißen einige bekannte Werke Ludwig Thomas?
Lösungshinweis: Ein Münchner im Himmel, Die Lokalbahn, Lausbubengeschichten.

Glossar

Antisemit
Mensch, der eine Abneigung oder Feindschaft gegen Juden hegt.
Assessor
Anwärter auf eine Stelle in der höheren Beamtenlaufbahn.
Babylon
Hier Synonym für die «sündige Großstadt» (Berlin, München).
Boheme
Künstlermilieu. Gesellschaft von Künstlern, die sich oft nicht an die traditionellen Regeln der Gesellschaft halten.
Bohemien
(Lebens-)Künstler.
Clinch
Umklammerung, auch Streit.
Compresse
Druckverband, mit dem z. B. die Verletzung in einem Duell verbunden wurde.
dekadent
Abwertend: heruntergekommen.
expedieren
Verschicken. Der Waisenknabe Thoma wurde zur Erziehung und zum Schulbesuch in eine fremde Stadt geschickt.
Fauxpas
Französisch = Fehltritt, (gesellschaftliches) Fehlverhalten.
Hattrick
Ursprünglich besonderer Erfolg im Fußball, im übertragenen Sinn mehrfacher Erfolg im Leben.
Hormonaustausch
Herstellung eines gesunden Gleichgewichts bestimmter Stoffe im Körper. Hier zynisch gemeint als Zweck, dem kurzzeitigen Liebesabenteuer dienen zu wollen.
Korps, Korpsstudenten
Verbindung bzw. Studenten, die einer Verbindung angehören. Eine solche Verbindung zeichnet sich mehr als ein unverbindlicher Verein durch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl aus.
Milieu, Bürgermilieu
Umwelt, Umgebung, in der die Menschen, hier das städtische Bürgertum, leben.
Nationalheros
Nationalheld, hier ironisch als milde Beschimpfung gemeint.
Preistango
Tanzveranstaltung, bei der der beste Tangotänzer belohnt wird.
Redoute
Maskenball.
Simplicissimus
Eine satirische deutsche Wochenzeitschrift, die von 1896 bis 1944 in München herausgegeben wurde.
Stereotype
Wenig durchdachte, immer wiederkehrende Behauptungen.
Visage
Abwertend für «Gesicht».

Personen

Graf, Oskar Maria (1894–1967)
Linksliberaler deutscher Schriftsteller, Vertreter der Arbeiter- und Exilliteratur.
Mühsam, Erich (1878–1934)
Politischer Aktivist, Publizist und Schriftsteller der von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
von Reznicek, Ferdinand (1868–1909)
Österreichischer Maler, Zeichner und Illustrator, der auch für den «Simplicissimus» arbeitete.
Reventlow, Fanny Gräfin zu (1871–1918)
Eigentlich Fanny Liena Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu Reventlow, deutsche Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin, berühmt als die «Schwabinger Gräfin» der Münchner Boheme.
de Rigardo, Marietta (1880–1967)
In Manila auf den Philippinen geboren, wurde von Thoma ihrem Ehemann regelrecht abgekauft, um sie heiraten zu können. Thoma setzte ihr im 2. Band der Lausbubengeschichten – Tante Frieda – ein literarisches Denkmal. In Gestalt der Cora verdreht sie als dunkelhäutiges, exotisches, bildhübsches Mädchen aus einem fernen Land allen Männern den Kopf.
Taschner, Ignaz (1871–1913)
Deutscher Bildhauer, Grafiker und Illustrator und Ludwig Thomas bester Freund.
Tucholsky, Kurt (1890–1935)
Deutscher Journalist und Schriftsteller, der Thoma als Vorbild betrachtete. Er trat auch unter den Pseudonymen Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Peter Panter und Kaspar Hauser auf. Gilt als extrem satirischer Kritiker seiner Zeit. Ein Teil seiner Werke ist auch in Mundart verfasst.

Hintergrundinformationen

Ludwig Thoma in der Literaturgeschichte – 1950er Jahre
«Durch das vertiefte Beachten der Umwelt wurde die Heimatdichtung stark angeregt, sodass fast für jede deutsche Landschaft eine bodenständige Erzählkunst erwuchs», steht 1956 in Georg Rieds Wesen und Werden der deutschen Dichtung (Verlag M. Lurz, München) auf S. 206. Eine Seite weiter wird «für Altbayern Ludwig Thoma mit seinem gut beobachtenden, wenn auch oft recht derben Erzählungen (Andreas Vöst, Agricola, Assessor Karlchen, Lausbubengeschichten), seinem satirischen Briefwechsel eines bayerischen Landtagsabgeordneten und seinen scharf zugreifenden Komödien Die Lokalbahn, Die Medaille, Lottchens Geburtstag, Die kleinen Verwandten, Moral genannt. Mehr war rund zehn Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus über den Dichter Thoma, der oft unverhohlen antisemitische Äußerungen publizierte, nicht zu sagen.

Die 1970er Jahre
1972 heißt es: «Ein höchst origineller satirischer Darsteller der oft grob verschlagenen Bauern Oberbayerns war Ludwig Thoma (1867–1921). In Oberammergau, Dachau und am Tegernsee lernte er ihre Starrköpfigkeit, ihren Stolz kennen und beobachtete, wie der Dünkel der höheren Stände und Beamten den Untertanengeist förderte. Der gerade, unverbildete Mensch des Volkes ist Thomas Vorbild. Sentimentale Heimatschwärmerei passte, jedenfalls vor dem 1. Weltkrieg, nicht zu seinem Naturell.» (Friedrich G. Hoffmann und Herbert Rösch: Grundlagen, Stile, Gestalten der deutschen Literatur, Frankfurt: Hirschgraben Verlag 1983, S. 262). Nach einem kurzen Überblick über seine wichtigsten Werke wird Thomas nationalgetön­ter Liberalismus angesprochen, den er im Vorkriegs-«Simplicissimus» zeigte. Kritische Töne sind also auch in dieser Literaturgeschichte nicht enthalten.

Die 1990er Jahre
Wieder 20 Jahre später, 1992, widmet die «Geschichte der deutschen Literatur» von Hans Gerd Rötzer dem Dachauer Rechtsanwalt Ludwig Thoma immerhin fast zwei Seiten. Den größten Teil davon nehmen Kurzinterpretationen seiner wichtigsten Werke ein. Der Dichter selbst wird als «vom Dialekt und Mi­lieu seiner bayerischen Heimat geprägt» (S. 287) beschrieben. Aber Thoma sei kein regionaler Heimatdichter, sondern habe engagierte Gesellschaftskritik geübt, vor allem am Beamtenapparat und dem Opportunismus der Leute. Eine umfassende Würdigung der Persönlichkeit Thomas fehlt auch hier.

Der unbekannte Thoma
Vielleicht liegt das an dem anderen, dem unbequemen und vielleicht unerwünschten Thoma. Dem Thoma, der Frauen mitunter für sein Vergnügen ausnützte, der begeistert den Weltkrieg bejahte und gegenüber den Juden mit beißender Häme und Hass auftrat. Sein Leben, das immer wieder von schlimmen Erlebnissen geprägt war, gibt nur zum Teil einen begründenden Verständnishorizont für seine widerstreitenden Persönlichkeitsmerkmale ab.
In den 20 Jahren, die Thoma für die Satirezeitschrift «Simplicissimus» arbeitete, genoss er das Leben, fühlte sich in der Gesellschaft ähnlich denkender Zeichner wohl und schrieb über 800 kleine Beiträge, in denen er Beobachtungen und Stimmungen, Lustiges und Ernstes, Banales und Kritisches aus seiner oberbayerischen Heimat festhielt. Seine sprachschöpferische Kraft ist hingegen bis heute unumstritten, sodass seine Texte sowohl als stimmungsvolle Unterhaltung als auch als Quelle zeitgenössischen Brauchtums gelesen werden können. Deshalb ist der Dichter Thoma als zeitloser Literat für die Schule wie für den Literaturkenner eine Empfehlung wert.

Der Text ist entnommen aus: http://www.br-online.de