Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №13/2008

Das liest man in Deutschland

Die Tarnkappe neben dem Stahlhelm

Thomas Karlaufs Biografie Stefan Georges erinnert an den einflussreichsten Dichter-Priester des 20. Jahrhunderts.

Man fasst sich bei der Lektüre von Thomas Karlaufs Biografie Stefan George. Die Entdeckung des Charismas immer wieder an den Kopf. Wie konnte das funktionieren? Da lief ein merkwürdig aussehender Mann durch die Gegend, guckte immer schlecht gelaunt, schrieb dunkel-raunende Lyrik und wurde mit dieser selbstinszenatorischen Masche zum einflussreichsten Dichter des frühen 20. Jahrhunderts.
Stefan George kennt heute kaum noch jemand. Wer nicht gerade Germanistik studiert, in einer Burschenschaft logiert oder Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung ist, wird seine Gedichte wahrscheinlich auch nie zu Gesicht bekommen. George lebte in einer versunkenen Welt, deren Ideologien gründlich desavouiert sind. Tot sind die Fantastereien seiner Zeit deshalb aber noch lange nicht – sie werden heute nur ganz anders vermittelt.
Karlaufs hochgelobter Biografie ist auf jeder Seite der Eiertanz anzumerken, denn es bedeutet, ‹politisch korrekt› und einfühlsam über George zu schreiben. Über einen Dichter also, der vor seinem Tod im Schlüsseljahr 1933 gut vorgearbeitet hatte für die Verheerungen einer Idee, deren eigendynamische Vernichtungskräfte er schlicht unterschätzt hatte. So endet Karlaufs dickes Buch denn auch mit den zerknirschten Sätzen: «Am Anfang stand der folgenschwere Irrtum, dass der Geist die eigentliche Macht repräsentiere und alle politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Entwicklungen ihn nichts angingen. Weil er nicht einmal im Jahr 1933 von dieser Hybris ließ, wurde der deutsche Geist, wie ihn Stephan Anton George aus Büdesheim bei Bingen aufgefasst und mit imperialer Geste vertreten hatte, mitschuldig und verschwand für immer im Abgrund der Geschichte.»
Dass dem nicht ganz so ist, wie diese pathetischen Worte suggerieren, unterstreicht allerdings die Existenz von Karlaufs Buch ebenso wie seine begeisterte Aufnahme im Feuilleton. Und es ist wirklich eines, das man lesen sollte. Denn selten hat man in einer Studie so viel darüber erfahren, was für bizarre Blüten der literarische Nationalismus seit dem Ende des langen 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland treiben konnte.
George war kein Nazi. Schon 1914 gehörte er nicht zu denjenigen, die sofort die Werbetrommel für die deutsche Mobilmachung im Ersten Weltkrieg rührten. Auf der politischen Bühne hielt er sich abseits. Walter Benjamin und Theodor W. Adorno lasen ihn noch 1940 mit kritischem Interesse und dem Impetus, ihn zu «retten». 1933 schrieb Benjamin von Ibiza aus an Gershom Sholem: «Wenn jemals Gott einen Propheten durch Erfüllung seiner Prophetie geschlagen hat, so ist es bei George der Fall gewesen.»
Der größte Dichter-Priester des 20. Jahrhunderts fantasierte auf seine Weise vom Geist der Nation, vom geheimnisvollen «Sinn der Dinge», der sich ihm irgendwo hinter den Erscheinungen des Krieges zu verbergen schien. George war Kulturpessimist, aber in seiner konservativen Weltsicht blieb immer ein diffuser metaphysischer Rest häretisch-deutschen Zukunftsglaubens. Karlauf stellt klar, dass George 1917 trotz seiner dezidiert apokalyptischen Sicht der Lage kein Anhänger von Oswald Spenglers im selben Jahr fertig werdendem Bestseller Der Untergang des Abendlands war. Selbst für das «dürsterste Szenario» gelte bei George: «Apokalypse meint nicht nur Untergang.»
Das macht das Verständnis dessen, worüber er schrieb, nicht einfacher. Auf eher krude Weise befürwortete eben auch George das, was ihr Apologet Armin Mohler in den 1950er Jahren die «Konservative Revolution» nannte. Georges reaktionärer Antimodernismus lässt sich an seinem Antiamerikanismus erhellen, den Karlauf für die Zeit von 1911 bis 1918 mit verschiedenen Zitaten belegt. So beschäftigte sich George intensiv mit dem Hirngespinst der «Vernichtung aller eigentlichen Völker» durch den «Sieg der angloamerikanischen Normalameise». Daraus resultiere «die völlige entseelung der menschheit, die amerikanisierung, die verameisung der erde».
Gegen das, was uns hier in einer bemerkenswerten Frühform der heute in Deutschland wieder so virulenten, verkürzten «Heuschrecken»-Kapitalismuskritik begegnet, sei der größte Feldherr machtlos: «Doch vor dem schlimmren Feind kann er [Hindenburg, J. S.] nicht retten.» Georges Erbitterung über die angebliche «Entseeltheit der amerikanischen Zivilisation» sei so groß gewesen, «dass er nicht einmal eine Ananas aß», kolportiert Karlauf.
Als am 11. Januar 1923 französische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschierten, um unerfüllte Reparationsforderungen einzutreiben, sprachen nicht nur Adolf Hitlers Kreise von der «Schmach» der angeblichen Vergewaltigung deutscher Frauen durch schwarze französische Soldaten. «Für all das würden die Franzosen eines Tages bezahlen müssen», habe auch George gemeint: «die werden noch Keile kriegen, solche Keile.» «Blut-schmach», zitiert Karlauf ein Kriegsgedicht Georges von 1917, «gehöre zum Ärgsten, was Völker sich antun könnten: Stämme / Die sie begehen sind wahllos auszurotten.»
All das verband George mit einer wahrlich eleganten Form, seine Homosexualität zu leben. Seine Ergebenen hielten ständig nach neuen Jünglingen Ausschau, die im Idealfall mit dem – heute doch etwas merkwürdig klingenden – Geheimcode «SS» (für «Sehr Süßer») bezeichnet wurden. Sie durften den Meister aus dem Mittagschlaf wecken und unter seiner Aufsicht Schönschreibübungen machen. Wer noch eine Freundin hatte, hatte sie schleunigst in den Wind zu schießen. Dann gehörte er dazu.
Die Bibel dieses zartfühlenden Männerclubs erschien 1914. «Der Stern des Bundes war der ungeheuerliche Versuch», notiert Karlauf mit unüberlesbarem Erstaunen, «die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären. Wer dies nicht sah oder nicht sehen wollte, musste die tausend Verse für inkommensurabel halten.» George habe mit seiner Publikation gleichsam die «Öffentlichkeit als sichersten Schutz» gewählt: «Nur wenige waren in der Lage und trauten sich, die Frage zu stellen, wozu denn der ganze Aufwand betrieben wurde und in welchem Punkt genau sich die ‹Geweihten› von den ‹Ungeweihten› unterschieden. Wer etwas wusste, schwieg. Den anderen fehlten Beweise. So konnte das ‹offene Geheimnis› zum entscheidenden Kriterium der Elitebildung werden.»
Neben diesen sexuellen Komponenten gerierte Georges Dichterpriestertum das, was Karlauf in Bezug auf Max Weber im Untertitel seiner Biografie die «Entdeckung des Charisma» nennt. Die Inszenierung des Dichters als Führer eines «Geheimen Deutschlands» (so der Titel des frühestens 1922 entstandenen und 1928 erschienenen George-Gedichts) zielte auf die Idee einer mystisch beschworenen Herrschaft in einer vom «zivilisatorischen Wahn» bedrohten Nation.
Wo es in den Jahren vor 1933 konkret um die Frage des anwachsenden Antisemitismus ging, der auch Mitglieder des George-Kreises direkt bedrohte, sprach der Meister von «Hysterie». Karlauf räumt ein, Georges Einstellung zu den Juden habe damit schlicht dem im Mittelstand verbreiteten Antisemitismus der «ganz gewöhnlichen Deutschen» entsprochen. Ähnlich bedrückend wirkt Georges Gedichtsammlung Das Neue Reich (1928), die – wie auch Publikationen von engsten George-Vertrauten – im Bondi Verlag mit dem Signet der Swastika verziert wurde. George und die Seinen wiesen einen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Bewegung, die sich das Symbol bald ebenfalls zueigen machte, von sich.
Dass Georges letzter Gedichtzyklus jedoch, vielleicht auch gerade in seiner inhaltlichen Schwammigkeit, verhängnisvoll in den Assoziationsraum der Ideologien des «Dritten Reichs» hinein­wies, erscheint heute offensichtlich. Allein Walter Benjamin monierte das bereits 1928, als er das im selben Jahr und im selben Verlag erschienene Buch des promovierten George-Freunds Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der Deutschen Klassik, rezensierte: «Der Unterschied zwischen dem offiziellen Deutschland und dem geheimen sei nämlich kleiner, als die Georgianer glaubten, die offenbar nicht sehen wollten, dass das geheime ‹von dem offiziellen zuletzt nur das Arsenal ist, in welchem die Tarnkappe neben dem Stahlhelm hängt›.»
Der Biograf arbeitete zehn Jahre lang in Amsterdam für die George-Zeitschrift «Castrum Peregrini». Die rund acht Jahre währenden Recherchen für seine Studie implizierten also auch eine Aufarbeitung eines eigenen Lebensabschnitts. Dass der Autor auch jetzt noch vom Konservativismus im Umfeld der George-Philologie geprägt ist, zeigen die letzten beiden Seiten seines Buchs. Ausgerechnet das gescheiterte Hitler-Attentat eines der letzten engen Vertrauten Georges, Claus von Stauffenberg, dient ihm hier zum Versuch einer abschließenden Differenzierung des dunklen Vermächtnisses des Dichters. «Es lebe das geheime Deutschland!» soll Stauffenberg bei seiner Erschießung im Hof des Berliner Bendler-Blocks 1944 ausgerufen haben.

Von Jan Süselbeck

Thomas Karlauf: Stefan George – Die Entdeckung des Charisma. Karl Blessing Verlag, München 2007.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11589&ausgabe=200802