Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №9/2008

Literatur

Paul Nizon: Das Jahr der Liebe

DIESER TRAUM, ICH SCHREIBE IHN JETZT nachmittags hier in meinem Schachtelzimmer mehr oder weniger übungsmäßig nieder, während der Taubenmann schon wieder das Zetern, Quengeln, an- und abschwellendes Quengeln, mit seiner Alten beginnt, bis diese mit ihrer Gelle oder Feilenstimme erstmals ihm über Mund und Wesen fährt, Machtanmeldung, und während das Kleinkind kräht, es ist aber kein Krähen, es ist eher nasales Pressen, aber auf Leben und Tod, Notwehr mit nichts als diesem Säuglingston, der bis zum Ersticken reicht, bis zu Atemverlusten; während aus einem unteren Fenster das sture orgiastische Stampfen einer Rockband nicht nachläßt, aus weiterer Ferne normale Stimmen mit Lachern, und dann das monotone roboterige mit Geräusch untermalte Kunstreden aus TV-Dialogen während alldem, es ist spätnachmittags, aber da wir hier mit der Sommerzeit eine Stunde voraus sind, ist es erst kurz nach vier, schreibe ich diesen Traum, der davon handelt, daß ich in Rom, gerade da, wo ich in meinem immerwiederkehrenden TRAUMROM zu jener Pforte oder jenem Engpaß komme, wo es «um eine Ecke ins Paradies oder in die Seligkeit geht», ein langes langes Gefälle von Treppen hernieder – aber es ist schwierig, die Pforte zu jener Ecke, die in die Seligkeit führt, zu finden aber vor zwei Stunden war ich da und traf auf die Livia aus meinem Stipendiaten-jahr, sie ist jetzt auch um die vergangenen siebzehn Jahre älter, man sieht es, und doch ist sie dieselbe rothaarige Laubfleckenhäutige, sie soll ja inzwischen immer in Neapel gelebt haben, die Tochter eines Professors ist sie, fällt mir wieder ein, und da war sie also und zwar in Begleitung einiger anderer Typen aus derselben Altersschicht, und trotzdem sind sie alle Stipendiaten, nur ich nicht mehr, ich komme zufällig zu ihnen, wo sie hinter einem von Vegetation, stachlig-schönem hartem immergrünem Geranke überkletterten Gemäuer Tee trinken oder Picknick abhalten, ich bin nicht sonderlich willkommen, aber doch geduldet, setze mich also zu ihnen auf diese müßiggehende Deutschrömerbank, es ist fast, als sei ich unsichtbar oder nicht von jenem selben Realitätsgrad wie die anderen, ich bin bei ihnen, aber sie sind bei sich und nehmen nicht Notiz von mir und da ist unterm Tisch und zu meinen Füßen eine Katze, die beginnt an meinem Schuh zu spielen, schließlich legt sie sich auf den Rücken und schlägt spielerisch, aber doch recht wild mit ihren Katzenpranken zu, und dann beißt sie sich fest am Schuh oder Fuß, und obwohl ich sie immer wieder abschütteln will, merke ich, daß es nicht geht, ich müßte sie also am Nackenfell packen und wegschleudern oder energisch mit dem Fuß wegschubsen, und schließlich wende ich mich an diese Steinbankgesellschaft, um sie um Hilfe zu bitten, sie sollen mir die Katze vom Hals schaffen, aber die reagieren überhaupt nicht, jetzt merke ich erst, daß ich bei einer Seligenparty bin – oder bin ich der Selige unter Lebenden –, sie reagieren nicht oder so, als gebe es mich nicht und dann fahren wir alle, diese überalterten Stipendiaten oder Deutschrömer und ich, in einer Art Leiterwagen einen Weg hinab, zum Institut geht’s, vermute ich, und ich an der Deichsel, kann schließlich nicht mehr recht steuern, das geht zu schnell und wird mit einem Sturz enden

Fortsetzung folgt

nie|der|schrei|ben <st. V.; hat>: (etw., was man erlebt hat, durchdacht hat o. Ä.) aufschreiben, um es damit für sich od. andere festzuhalten.

ze|tern <sw. V.; hat> [zu Zeter] (emotional abwertend): ärgerlich, unzufrieden, vor Wut, Zorn o. Ä. [mit lauter, schriller Stimme] schimpfen, jammern: sie zetert den ganzen Tag; Ü die Spatzen zeterten um jeden Brocken.

quen|geln <sw. V.; hat> (ugs.): 1. a) (von Kindern) leise u. kläglich vor sich hin weinen; b) (von Kindern) jmdn. [weinerlich] immer wieder mit kleinen Wünschen, Klagen ungeduldig zu etw. drängen: dass ihr immer q. müsst! 2. in griesgrämig-kleinlicher Weise etw. zu bemängeln haben: über das Wetter q.

stur <Adj.> [aus dem Niederd. < mniederd. stur, eigtl. = standfest; dick, breit, zu stehen] (ugs. emotional abwertend): a) nicht imstande, nicht willens, sich auf jmdn., etw. einzustellen, etw. einzusehen; eigensinnig an seinen Vorstellungen o. Ä. festhaltend: ein -er Beamter; furchtbar s./s. wie ein Panzer sein (sich jedem Einwand o. Ä. gegenüber sperren); s. an etw. festhalten, auf etw. bestehen; er bleibt s. [bei seiner Meinung]; auf s. schalten (ugs.; auf keinen Einwand, keine Bitte o. Ä. eingehen); b) ohne von etw. abzuweichen: s. geradeaus gehen; s. nach Vorschrift arbeiten; c) (seltener) stupide.

Ge|mäu|er, das; -s, - (geh.): altes [verfallenes] Mauerwerk; aus alten Mauern bestehendes Bauwerk: ein fensterloses G.

weg|schub|sen <sw. V.; hat> (ugs.): wegstoßen: jmdn. [von etw.] w. schub|sen <sw. V.; hat> (ugs.): (jmdn., etw.) durch plötzliches Anstoßen in eine bestimmte Richtung in Bewegung bringen; jmdm. einen Schubs geben: jmdn. ins Wasser, vom Stuhl, zur Seite s.; sie wurde unsanft ins Auto geschubst; sie drängelten und schubsten.

Paul Nizon

(* 19. Dezember 1929 in Bern)

ist ein Schweizer Kunsthistoriker und Schriftsteller.
Paul Nizon ist der Sohn eines russischen Chemikers, seine Mutter stammte aus Bern. Nach der Reifeprüfung studierte er Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Germanistik an den Universitäten in Bern und München. 1957 wurde er mit einer Arbeit über Vincent van Gogh (Der frühe Zeichnungsstil – Untersuchung über die künstlerische Form und ihre Beziehung zur Psychologie und Weltanschauung des Künstlers) zum Dr. phil. promoviert. Anschließend war er bis 1959 als wissenschaftlicher Assistent am Historischen Museum in Bern tätig. 1960 hielt er sich als Stipendiat am Schweizer Institut in Rom auf. 1961 war er leitender Kunstkritiker der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit 1962 ist Nizon, der seit 1977 in Paris lebt, freier Schriftsteller. Er hatte verschiedene Gastdozenturen inne, u. a. 1984 an der Universität Frankfurt am Main und 1987 an der Washington University in St. Louis (Missouri).
Paul Nizon gehört seit 1971 dem Autorenverband «Autorinnen und Autoren der Schweiz» und seit 1980 dem Deutschschweizer P.E.N.-Zentrum an.
Auszeichnungen und Ehrungen:
1972 Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis,
1982 Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 1983 Deutscher Kritikerpreis für Literatur,
1989 Torcello-Preis der Peter Suhrkamp-Stiftung, 1992 Kunstpreis für Literatur der Stadt Zürich, 1993 Amt des Stadtschreibers von Bergen,
1994 Großer Literaturpreis des Kantons Bern, 1996 Erich-Fried-Preis,
2003 Buchpreis des Kantons Bern.
Werke: Die gleitenden Plätze (1959), Die Anfänge Vincent van Goghs (1960), Canto (1963), Diskurs in der Enge (1970), Im Hause enden die Geschichten (1971), Stolz (1975), Das Jahr der Liebe (1981), Am Schreiben gehen (1985), Im Bauch des Wals (1989), Über den Tag und durch die Jahre (1991), Das Auge des Kuriers (1994), Die Innenseite des Mantels (1995), Hund (1998), Taubenfraß (1999), Die Erstausgaben der Gefühle (2002), Abschied von Europa (2003), Das Drehbuch der Liebe (2004), Das Fell der Forelle (2005).

Aus: Paul Nizon: Das Jahr der Liebe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1981. S. 7–17.