Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №6/2008

Literatur

Erik Neutsch: Claus und Claudia

Der Mann, um dessen Schicksal es hier geht, um seines und das seiner Tochter, Claus Salzbach mit Namen, lebte seit Jahren im Ausland. Er stand im diplomatischen Dienst und war zuletzt im Auftrage der Regierung am Sitz der Unesco in Paris tätig.

Alle Leute, sowohl seine Vorgesetzten als auch jene, die sonst mit ihm zu tun hatten, kannten ihn als einen bescheidenen, verläßlichen, jederzeit seine Aufgaben gewissenhaft erfüllenden Menschen. So hatte er international die Republik stets würdig vertreten und ihr Ansehen durch sein entschlossenes und aufrichtiges Verhalten in aller Augen gestärkt. Dafür war ihm auch schon öffentliche Anerkennung zuteil geworden, verbunden mit Auszeichnungen und Orden.

Eines Tages aber, im vorletzten Herbst erst, ging ein heiliger Zorn mit ihm durch, und zwar von solcher Gewalt, daß er mit einem Schlag alle ihm auferlegten Konventionen mißachtete und zum Selbsthelfer wurde. Unerklärlich blieb lange, warum es ausgerechnet ihn, die Bedächtigkeit in Person, zu einem solchen Ausbruch der Gefühle hatte treiben können: und so soll auch hier nach den Gründen gefragt werden, wie es dazu kam.

Er selbst war nach allem nicht mehr bereit, Auskunft zu geben, doch ein Bündel von zahlreichen Dokumenten, Aktennotizen und Protokollen gewährt genügend Einblick, um die Geschichte zu rekonstruieren.

Er ging mit Claudia durch den Park. Der Altweibersommer spann seine Fäden, und hier und dort färbte sich das Laub der hohen Birken und Buchen bereits gelb, rot und samtig braun. Auf dem See schwammen schwarze Schwäne.

Claudia aber, merkte er, wandelte im Augenblick neben ihm her wie geistesabwesend. Sie gewahrte das alles nicht, das Feuer im Blattwerk von Bäumen und Büschen, die Schwäne, auch den strahlend blauen Himmel nicht. Sie klammerte sich an seinen Arm und wiederholte des öfteren, mit zittriger und doch tonloser Stimme, die Sätze: «Ach, Vati, Vati, weißt du ... Wie gut, daß du gekommen bist. Sie wollen mich fertigmachen ...»

So hatte er sie nicht in Erinnerung, sie, wie er stets geglaubt hatte, mit der fröhlichen, unbefangenen Art, sich dem Leben zu stellen, vergleichbar in dieser Hinsicht, diesem Charakterzug nur noch mit ihrer Mutter. Martina, dachte er mit einem Mal, das Bild seiner Frau vor Augen, als er seine Tochter prüfend von der Seite betrachtete, warum mußtest du von mir gehen, mich allein lassen, jetzt, wo ich deine Hilfe vielleicht am meisten gebrauchen könnte.

Sie war hübsch. Das hatte er jedesmal mit einem gewissen väterlichen Stolz konstatiert, wenn er Claudia ins Gesicht sah. Ihr dichtes und dunkles Haar fiel bis auf die Schultern. Ihre schön geschnittenen Züge in dem Oval, die Lippen, die Stirn, die klaren Augen – auch das erinnerte ihn an Martina. Doch sobald sie ihn jetzt anschaute, sprach aus ihrem Blick, ihren graugrün umrahmten Pupillen längst nicht mehr jene unschuldsvolle, fast schon naive Offenheit von einst, sondern eher eine tiefe, verzweifelte Traurigkeit.

Was bloß konnte er dagegen tun? Nein, sie war es nicht mehr. Claudia, das Ebenbild ihrer Mutter. Blaß wirkte sie jetzt, ihre Schlankheit zerbrechlich: Es überkam ihn, sie fest in die Arme zu nehmen, an seine Brust zu pressen und sie seine Wärme spüren zu lassen wie früher als Kind. Am schwersten wohl fiel ihm, sich damit abfinden zu müssen, daß sie nun selbst eine Frau war mit ihren zweiundzwanzig Jahren und einem bitteren Leben schon hinter sich.

Fortsetzung folgt

Vor|ge|setz|te,  der u. die; -n, -n <Dekl. Abgeordnete>: jmd., der (in einem Betrieb o. Ä.) anderen übergeordnet u. berechtigt ist, Anweisungen zu geben: jmds. unmittelbare, direkte, nächste V.; V. müssen die Reisekostenabrechnung autorisieren.

zu|teil|wer|den <unr. V.; ist> (geh.): gewährt, auferlegt werden; [vom Schicksal od. von einer höhergestellten Person] zugeteilt werden: ihr wurde eine hohe Ehre, ein großes Glück, ein schweres Schicksal zuteil; den Kindern eine gute Erziehung z. lassen; dem Buch wurde wenig Beachtung zuteil.

Ein|blick,  der; -[e]s, -e: 1. a) (Außenstehenden ermöglich­ter) Blick in etw. hinein: er hatte E. in düstere Hinterhöfe; b) (einem Außenstehenden ermöglichtes) Durchsehen, Durchlesen in bestimmter Absicht, prüfendes [Hin]einsehen: E. in die Unterlagen nehmen; jmdm. E. in die Akten gewähren. 2. Zugang zu einigen typischen Fakten eines größeren Zusammenhangs u. dadurch vermittelte Kenntnis, Einsicht: tiefe -e in eine Methode gewinnen.

über|kom|men <st. V.; hat>: 1. (von Empfindungen, Gefühlen) plötzlich u. mit großer Intensität ergreifen: Mitleid, Angst, Ekel, Zorn überkam sie [bei diesem Anblick]; bei diesem Gedanken überkam es uns heiß, kalt (schauderte uns). 2. (veraltend) als Erbanlage o. Ä. erhalten, überliefert bekommen, erben: die Lethar­gie hat sie von der Mutter überkommen.

ab|fin|den <st. V.; hat>: <a. + sich> sich mit jmdm., etw. zufriedengeben; sich in etw. fügen: sich mit den Gegebenheiten a.; ich fand mich mit meinem Schicksal ab.

Erik Neutsch

(* 21. Juni 1931 in Schönebeck/Elbe) ist ein deutscher Schriftsteller.
Erik Neutsch stammt aus einer Arbeiterfamilie. Nach dem Besuch der Oberschule und bestandenem Abitur trat er 1949 der SED und der FDJ bei. Von 1950 bis 1953 studierte er Gesellschaftswissenschaften und Publizistik an der Universität Leipzig. Dieses Studium beendete er erfolgreich als Diplom-Journalist. Anschließend arbeitete er bis 1960 in der Kultur- und Wirtschaftsredaktion der Zeitung «Die Freiheit» in Halle/Saale. Seit 1960 ist er als freier Schriftsteller und Journalist in Halle/Saale tätig. Ab 1964 gehörte Neutsch zur SED-Bezirksleitung Halle/Saale. 1970/71 leistete er ein freiwilliges Jahr als Politoffizier bei der Nationalen Volksarmee.
Erik Neutsch ist Verfasser von Romanen, Erzählungen, Kinderbüchern, Essays, Gedichten und Drehbüchern. Seine letztlich stets parteitreuen Bücher setzen sich mit gesellschaftlichen Problemen des real existierenden Sozialismus in der DDR auseinander. Seinen größten Erfolg erzielte Neutsch mit dem Roman Spur der Steine, der die Entwicklung eines Arbeiters auf einer Großbaustelle vom Nonkonformisten zum angepassten Mitglied der sozialistischen Gesellschaft zum Thema hat. Das Buch war mit einer Auflage von über 500 000 Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher der DDR-Literatur; die Verfilmung durch Frank Beyer wurde 1966 unmittelbar nach der Uraufführung von den DDR-Behörden verboten. Seit den Siebzigerjahren arbeitet Neutsch an seinem erklärten Hauptwerk, dem Romanzyklus Der Friede im Osten, in dem die Geschichte der DDR in epischer Breite geschildert wird; von den geplanten sechs Bänden sind bisher vier erschienen.

Erik Neutsch war seit 1960 Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR; von 1963 bis 1965 war er Vorsitzender des Bezirksverbandes Halle/Saale dieser Organisation. Seit 1974 gehörte er als ordentliches Mitglied der Ost-Berliner Deutschen Akademie der Künste an; seit 1990 ist er Mitglied des Verbandes Deutscher Schriftsteller. Er erhielt u. a. folgende Auszeichnungen: 1961 und 1962 den Literaturpreis des FDGB, 1964 und 1981 einen Nationalpreis, 1971 den Heinrich-Mann-Preis und den Kunstpreis der Stadt Halle/Saale, 1973 den Händelpreis des Bezirkes Halle/Saale.

Werke: Die Regengeschichte (1960), Die zweite Begegnung (1961), Spur der Steine (1964), Die anderen und ich (1970), Olaf und der gelbe Vogel (1972), Der Friede im Osten, Heldenberichte (1976), Fast die Wahrheit (1979), Da sah ich den Menschen (1983), Claus und Claudia (1989), Totschlag (1994), Die Liebe und der Tod (1999), Nach dem großen Aufstand (2003).

Aus: Erik Neutsch: Claus und Claudia. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1989. S. 5–13.