Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №2/2008

Literatur

Adolf Muschg: Ein Glockenspiel

Fortsetzung aus Nr. 01/2008

Nach dem Abendessen, das er, wie gewohnt, allein einnahm, besann er sich wieder auf den merkwürdigen Brief, las ihn zu wiederholten Malen und blieb danach offenen Mundes – denn seine Nase war verstopft – vor dem schwachen Kaminfeuer sitzen. Die Haushälterin hatte es zu besorgen versäumt, sie wollte nicht glauben, daß ein vorgerückter Sommerabend schon kühl sei. Man hätte den schweren Mann im halben Licht seines Wohngelasses für alt halten können, doch waren die Jahrzehnte fast ohne Spuren an seinem Gesicht vorbeigegangen. Die Haut war rein, der schwache Mund lag weich im runden Kinn, seine kurze himmelwärts deutende Nase hatte sich seit seinen Knabentagen nicht verändert, und seine Stirn war glatt geblieben. Nur sein Haar hatte sich gelichtet und hing ihm in gelben Strähnen über die Ohren. Auch das einwärts gekehrte Auge war dasjenige eines Knaben, der freilich schon zu seiner Zeit nicht eben kindlich geblickt haben mochte. Von seinem Besuch entlastet, und doch wie von Scham gebeugt, lag der Leib des Kaplans in seinem Lehnstuhl. Hinter ihm stand sein Schreibpult, reihten sich seine Bücher. Er hätte sein Leben lang gern eine Bibliothek besessen.
Wenn er den Brief dieser Röse richtig las – und er hatte ihn ja mehr als einmal gelesen –, so wollte sie nicht nur vom Teufel, und zwar zweimal wöchentlich, einmal am Mittwoch, einmal am Sonntag während der Heiligen Messe, heimgesucht worden sein: sie erbot sich auch, dem Kaplan, der sich, wovon sie Kunde zu haben schien, durch einige Schriften zur Pflege deutscher Volksbräuche hervorgetan hatte, mit Nachrichten aus dem höllischen Reiche zu dienen, die sie aus erster Hand zu besitzen vorgab. Zum Beweis führte sie die Praktiken an, denen der Böse sie, wie sie schrieb, fleißig unterzog, wobei er nicht nur unermüdlich, sondern auch außerstande gewesen sei, seinen Redefluß im Zaum zu halten. Dabei sei, soviel sie verstanden habe, der wahre Gegenstand seines Interesses nicht ihr Fleisch, sondern seine persönliche Einsamkeit gewesen. Er habe, während er zu reiten fortfuhr, die Eroberung der Erde für sein Ziel ausgegeben, an dem er festzuhalten gezwungen sei, ohne Hoffnung, auf diese Weise auch seine Melancholie niederzuschlagen. Diese nämlich sei sein Teil seit Erschaffung der Welt, an welcher ihm doch nicht wenig Verdienst zukomme. Mit seiner Lust, der er heftig schreiend Ausdruck gegeben habe, so daß sie ihn, der Nachbarn wegen, zur Ruhe habe weisen müssen, sei er bis dato gezwungen, das fürchterlichste Unrecht zu büßen, Unrecht, das er keineswegs getan, sondern gelitten habe. – Dabei könne sie, Röse, nicht behaupten, der Teufel habe ihr im eigentlichen Sinne Gewalt getan. Immerhin bitte sie den Geistlichen, dem sie sich nicht zu erkennen geben dürfe, um einigen Rat, wie sie sich in diesem für eine Christin ungewöhnlichen Fall zu benehmen habe. Da das Geheimnis der Ohrenbeichte in dieser verwirrten Zeit nicht ausreichend geschützt sei und sie sich vor der kritischen Teilnahme, die der Beichtiger an ihr nehmen könnte, fürchte, schlage sie ihm einen Briefwechsel vor, dergestalt, daß er seine Antwort an der Mauer des Kirchhofs in einem Loch, das sie ihm genau bezeichne, niederlege, und zwar an jedem Mittwoch, worauf sie ihm ungesäumt mit gewöhnlicher Post antworten werde. Das werde sie erleichtern, und er habe Gelegenheit, sein Interesse an der Nachtseite der Natur zu befriedigen und vertiefen. Ihr sei, von häufigem Schwindel abgesehen, wohl, vielleicht nur zu wohl; höchstens besorge sie, daß ein gewisser strenger Geruch sie den Menschen verrate. Reden wolle sie nicht, aber schreiben möge sie gern. Der briefliche Austausch habe, seiner Umständlichkeit wegen, für sie immer etwas Feierliches gehabt, zumal mit einem Unbekannten wie ihm. Daß sie ihm bei ihrem Austausch die nämliche Vertraulichkeit zusichere, die sie selbst zu beanspruchen Anlaß habe, verstehe sich von selbst.
Kaplan Breitkopf war zu seiner Beschämung, und wohl zu seinem Schaden bei dem Visitator, den ganzen Tag im Schlafrock gewesen; daß er sich, um zur Beruhigung seiner Nerven die freie Luft zu gewinnen, ankleiden mußte, kam ihm wie eine lästige Störung vor. Weit draußen erst, im offenen, schon dämmernden Land, kam ihm seine Erkältung in den Sinn; da er geschnittenes Gras riechen konnte, mußte sie schon auf dem Rückzuge sein, und er bereute seine leichte Kleidung nicht, zumal ihn der kurze Atem immer wieder einzuhalten zwang. Während er da und dort, in Sinnen verloren, ein Blatt, oder auch einen ganzen Zweig, vom Busche brach und zwischen den Fingern zerrieb, beredete er sich, daß es sich bei dem Teufelsbrief um eine Mystifikation handeln müsse und daß womöglich ein neidischer Skribent einen Streich mit ihm vorhabe. Doch schien diese Vermutung, so heftig seine Vernunft an ihr festhielt, seinen Gefühlen nicht genugzutun. Da er, schon mitten im Walde, um seine Brust fürchtete, kehrte er um und gelangte auf Umwegen in sein stilles Pfarrhaus zurück.

Fortsetzung folgt


be|sin|nen <st. V.; hat> [mhd. besinnen = nachdenken, refl. = sich bewusst werden]: 1. <b. + sich> nachdenken, überlegen: sich kurz, eine Weile b.; ich habe mich anders besonnen (meine Meinung geändert); sie hat sich endlich besonnen (ist zur Vernunft gekommen); er musste sich erst einmal b.; <subst.:> nach kurzem/ohne langes Besinnen. 2. <b. + sich> a) sich an jmdn., etw. erinnern: ich kann mich nicht mehr auf sie, auf ihren Namen b.; sie besann sich dessen nicht mehr; jetzt besinne ich mich wieder (jetzt fällt es mir wieder ein); wenn ich mich recht [darauf] besinne, war er schon einmal hier; b) sich bewusst werden: sie besann sich endlich auf sich selbst; (geh.:) wir besannen uns der Würde des Ortes; (geh.:) endlich besann sie sich ihrer Situation. 3. bedenken, über etw. nachsinnen: er besann sich der Märchen, die ihm die Großmutter erzählt hatte; ich hatte einiges zu b.
Ge|lass, das; -es, -e [mhd. §¥¬æz¥ = (Art der) Niederlassung, zu lassen] (geh.): kleiner, enger, dürftig ein­gerichteter [Keller]raum.
heim|su|chen <sw. V.; hat> [mhd. heime suochen = in freundlicher od. feindlicher Absicht zu Hause aufsuchen, überfallen]: 1. als etw. Unerwünschtes, Unheilvolles o. Ä. über jmdn., etw. kommen; befallen: ein Krieg, eine Dürre suchte das Land heim; er wurde von einer schweren Krankheit heimgesucht. 2. bei jmdm. in einer ihn schädigenden od. für ihn unangenehmen, lästigen Weise eindringen: Einbrecher suchten das Lager heim; sie wurden am Wochenende von der Verwandtschaft heimgesucht.
er|bie|ten, sich <st. V.; hat> [mhd. erbieten = darreichen, anbieten] (geh.): sich bereit erklären (etw. zu tun); seine Dienste anbieten: er erbot sich, ihr bei den Aufgaben zu helfen.
da|to <Adv.> [lat., urspr. Dativ bzw. Ablativ von: datum, Datum] (Kaufmannsspr. veraltet): heute: drei Monate nach d.; vgl. a dato; *bis d. (bis zu diesem Zeitpunkt, bisher): das war mir bis d. nicht bekannt; 30 000 DM hat die groß angelegte Spendenaktion bis d. schon gebracht (Saarbr. Zeitung 5.10. 79, 17).

Aus: Adolf Muschg: Leib und Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982. S. 361–373.