Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №22/2007

Literatur

Herta Müller: Barfüßiger Februar

(Fortsetzung aus Nr. 16, 17, 18, 19, 20, 21/2007)

Die große schwarze Achse

Das Mädchen hatte ein weißes Leibchen an. Das war oval und knapp wie Augenweiß, daß man im Schimmer der Laterne die runden braunen Augen ihrer Brüste darin schwimmen sah. Der Briefträger hielt seine Hand über den Hut. Sein Schnurrbart zitterte und seine Augen legten sich wie Kelchblätter um die kleine welke Rose, die das Mädchen im Nabel trug.

Die Hand des Agronoms klimperte, als wären die Fischgräten dürr. Die Schenkel des Mädchens glitten an ihr herauf bis unter die Arme, sie schüttelten die Hüften und teilten die Fransen des Rocks. Und die Fischgräten des Agronoms standen in zuckendem Grau und seine Augen drängten sich mit den Augen Ionels auf dem schmalen seidenen Dreieck, das zwischen den Schenkeln des Mädchens war.

Lenis Augen waren groß und in den Augenwinkeln hart und weiß wie Grabsteine. Ionel blinkte mit dem Ring über dem schwarzen Hut. Seine Lippen waren naß und seine Kehle stieg ihm in den Gaumen.

Meine Augen ertränkte das seidene Dreieck. Ich ließ mein Geld an den wilden Armringen vorbei, in den Hut fallen. Meine Hand erschrak, als ich die langen schwarzen Haare um das weiße Dreieck neben meinen Fingern sah.

Leni hatte die Schneiderin eingehängt. Sie ging mit ihr auf den Bahndamm zu. Sie gingen wie leere Kleider. Leni schaute sich noch zweimal um. Ionel pfiff sein totgewalztes Lied und schaute das Mädchen mit dem seidnen Dreieck von hinten an. Die Kantorin war schon oben auf dem Bahndamm und ihr Kleid leuchtete ein wenig und verschwand. Der Agronom steckte die Hände in die Rocktaschen. Das Mädchen trug den Hut hinters Bühnentuch. Ionel ging pfeifend zu seinem Traktor.

Der Bahndamm war schwarz und hoch und das Gras war schwarz und tief. Meine Kette lag nicht neben meinem Schuh. Ich bückte mich. Soviel Erde war vor meinem Gesicht, und ich drehte mich in vielen Kreisen. Das Gras war feucht und meine Hände waren kalt. Und meine Kette war ertrunken, hatte sich weggeschlängelt zu den unsichtbaren versteckten Schlangen, war gewandert, dreißig Jahre weit von mir, im Wandern der Zigeuner.

Und meine Kette, und der Schmied, und meine Mutter, und mein Geld.

Das Bühnentuch beulte sich im Wind. Das Feuer der Zigeuner war sehr rot und heiß war es wie mein Gesicht, wie meine Augen, wie mein vor sich hin redender Mund. Und der Rauch des Feuers war dick. Er deckte die Augen der Zigeuner zu, die Schläfen der Zigeuner, und die Hände. Der Rauch des Feuers fraß ihr Haar, zerraufte es und blies es auf wie grauen Teig. Ich stellte mich in diesen Rauch. Er fraß mich nicht, flog in die Luft in feinen Rüschen und erstarrten Fächern, in weißen Anzügen und schwarzen Schuhn. Und ließ mich stehn. Und schickte mich nachhause.

Der Sänger fütterte die Pferde. Das Pferd mit roten Bändern in der Mähne schaute in den Mond.

Ich ging wie ausgeronnen auf den Bahndamm zu. Der Mond war leer. Vor dem Bahndamm saß eine Frau. Ihre Bluse war schwärzer als die Nacht und ausgebreitet waren ihre Röcke. Unter ihren Röcken rauschte es. Sie pflückte Gras mit einer weißen Hand und stöhnte laut wie für den Tod. Auf dem Bahndamm stand ein schwarzer Mann und schaute hinauf in den Himmel. «Jetzt wären wir schon längst zuhaus», sagte er. Und seine Stimme war die Stimme meines Onkels.

Es stank nach faulem Fleisch. Meine Tante hob ihre Röcke. Ein heller Fleck stand unter der schwarzen Bluse. Der Fleck war breit, und gleicher war er als zwei Monde. Meine Tante wischte sich mit einem Grasbüschel den Hintern. Mein Onkel ging auf dem Bahndamm auf und ab. Er blieb kurz stehn und: «Menschenskind», rief er, «das stinkt ja wie die Pest.»

Der Himmel roch nach Kot. Der Bahndamm stand schwarz hinter mir und riß den Himmel runter, und schob ihn vor sich auf den Schienen her wie einen schwarzen Zug.

Der Teich war klein und hielt den Spiegel hin. Er konnte soviel Kot und soviel Nacht nicht widerspiegeln. So blieb er, blind und starr im Sack des Mondes stehn.

Vor der Mühle stand ein Storch. Sein Flügel war verwest vor Dunkelheit, sein Bein war angefault vom Teich.

Aber sein Hals war ganz weiß. «Wenn er fliegt, stirbt er in der Luft, und alles, was er tut, ist Klage», dachte ich. Und gehend sah ich meine Kette überall aus dunkler Luft und schrie: «Steck deinen Schnabel in den Kot. Geh in den Schlamm und such den Vater für den kleinen Franz.»

Auf den Straßen standen dichte Bäume. Die blühten in den Frühling. Und wenn der Sommer kam, hatten sie rote Blätter und kein Obst. Und keinen Namen hatten sie, die roten Bäume. Sie rauschten weich und meine Kette war nicht drin.

Und hinterm Zaun bellte das Herz eines Hundes. Und oben in den roten Bäumen fror das Herz eines jungen Rehs.

Und an der Schmiede war das Fenster dunkel, weil der Schmied schon schlief, und weil die Glut schon schlief. Und viele Fenster waren hell und schliefen nicht.

Das Brunnenrad stand still. Der Brunnen schlief und seine Kette schlief. Eine Wolke wanderte im großen Kot. Im Schlaf des Himmels zog sie auf und ab, und hatte weißen wilden Meerrettich im Schuh, und flatterte am Hals. Und flatterte am Hals mit Lenis rotem Huhn.

Und über dem roten Huhn schrie ein Gesicht: «Wo ist deine Kette, und wo ist dein Geld.» Das Fenster unsres Hauses war voll mit Glut.

Das Dorf war leer. Gregor, das Dorf war leer. Ich horchte am Fenster. Das Radio schwieg. Und Mutter schrie. Und Vater schwieg.

Großvater schlief. Gregor schlief einen Traum und sah in seinem Traum, wie ein Frosch mir in die Wange springt.

Die große schwarze Achse drehte sich.
[…]


Leib|chen, das; -s, -: 1. (veraltet) Mieder, eng anliegendes [vorn geschnürtes], ärmelloses Oberteil eines Trachten- od. Dirndlkleids. 2. a) (österr., schweiz.) Herrenunterhemd; b) (österr., schweiz.) Trikot; c) (früher) miederartiges Kleidungsstück für Kinder, an dem Strumpfhalter befestigt sind.

klim|pern <sw.ÿV.; hat>: 1. a) (von kleinen metallischen Gegenständen) aufeinander, durcheinander fallend ein helles Geräusch von sich geben: die Münzen klimperten im Klingelbeutel; b) mit mehreren kleinen metallischen Gegenständen ein helles Geräusch verursachen: mit Kleingeld, den Schlüsseln in der Hosentasche k. 2. (ugs.) a) nur einzelne, zusammenhanglose [hohe] Töne hervorbringen, anschlagen: auf der Gitarre, dem Klavier k.; b) (abwertend) ausdruckslos, stümperhaft, schlecht spielen: eine Etüde, einen Schlager auf dem Klavier k.

beu|len <sw.ÿV.; hat>: Falten werfen, sich bauschen: das Futter der Jacke beult.

zer|rau|fen <sw. V.; hat>: (das Haar) völlig zerzausen: jmdm., sich die Haare z.

ver|we|sen <sw. V.; ist>: sich (an der Luft) zersetzen; durch Fäulnis vergehen: die Leichen, die toten Pferde begannen zu v., waren schon stark verwest; ein verwesender Leichnam.

an|fau|len <sw.ÿV.; ist>: zu faulen beginnen, in Fäulnis übergehen: das Korn faulte schon an; angefaulte Äpfel.

Aus: Herta Müller: Barfüßiger Februar. Rotbuch Verlag, Berlin 1987. S. 5–23.