Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №19/2007

Das liest man in Deutschland

Aus der Vogelperspektive

Peter Burke schildert die Sprachentwicklung im Europa der Frühen Neuzeit

Das war fällig. Unter dem Stichwort «Europäische Sprachgeschichte» hat die Sprachgeschichtsschreibung in den letzten Jahren die einzelsprachlichen Grenzen überwunden und sich zudem auch inhaltlich der Kultur- und Bewusstseinsgeschichte geöffnet. Was bislang noch fehlte, war ein vergleichender Überblick über die Entwicklung der europäischen Kultursprachen in der Frühen Neuzeit. Denn erst im Vergleich werden einige Haltungen und Bewusstseinsentwicklungen in Bezug auf Einzelsprachen verständlich. Um dies gleich vorwegzunehmen: Das Projekt einer vergleichenden europäischen Sprachgeschichte ist ein gewaltiges – so gewaltig, dass es nicht verwundern oder zu sehr enttäuschen darf, wenn Peter Burke es nicht ganz einlösen kann.

Peter Burke – seines Zeichens Kulturhistoriker – begibt sich mit seinem Überblick zur europäischen Sprachgeschichte auf fremdes Terrain. Er begründet gut, weshalb dieser Ausflug gerechtfertigt ist: Sprache ist nun einmal ein wesentlicher Indikator kulturellen Wandels und daher von zentralem kulturhistorischem Interesse. Bei den einzelnen Kapiteln des Buches handelt es sich um «eine Reihe miteinander in Verbindung stehender Essays», die ursprünglich aus Vorlesungen hervorgegangen sind. Beides – den nicht genuin sprachhistorischen Blick und die Genese aus einer Vorlesungsreihe merkt man dem Buch in positiver wie in negativer Hinsicht an. Positiv ist hervorzuheben, dass sich der Autor nicht in sprachhistorischen Details verliert, die die Entwicklung der europäischen Kultursprachen in der Frühen Neuzeit ja zuhauf bieten. Positiv ist ebenfalls der flüssige Duktus, in dem das Werk geschrieben ist. Die Kehrseite ist jedoch, dass an einigen Stellen die notwendige Präzision in der Darstellung fehlt und dadurch Lücken entstehen, die das sprachhistorische Bild der Frühen Neuzeit etwas verzerren. Der Überblick, den der Verfasser bietet, hat etwas von einer sprachhistorischen Vogelperspektive. Man sieht dabei viel von Europa, muss dafür aber in Kauf nehmen, manches zu übersehen und manches zu pauschal zu sehen.

Burke behandelt in insgesamt acht Abschnitten unterschiedliche Aspekte der europäischen Sprachgeschichte zwischen 1450 und 1789. Der Schwerpunkt liegt ganz deutlich auf dem 16. Jahrhundert. Im Prolog geht Burke auf den Begriff der Sprachgemeinschaft ein. Was soll gerade mit Blick auf die Frühe Neuzeit darunter zu verstehen sein? Das erste Kapitel resümiert vieles Bekanntes zum Thema der «Entdeckung der Sprache im Europa der Frühen Neuzeit». Neu ist hier in erster Linie die komparative Sichtweise, in der die Sprachbewusstheitsbildung und die Vervolkssprachlichung auf die wichtigsten der annähernd 70 europäischen Sprachen angewendet wird. Sehr anekdotenreich schildert hier der Autor den Aufstieg der einzelnen Nationalsprachen in Abgrenzung zum Lateinischen. Das zweite Kapitel gehört zu den originellsten des Buches. Während Vervolkssprachlichung und auch einige der in den späteren Kapiteln behandelten Themen weithin bekannt sein dürften, ist der Blick aufs Lateinische als einer lingua franca, die noch ein reges Leben bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hatte, aufschlussreich. Es war keineswegs so, dass der Aufstieg der Volkssprachen mit einem geradlinigen Niedergang des Lateinischen einherging. Vielmehr diente das Lateinische noch lange als die europäische Brückensprache schlechthin. Obwohl zunehmend Literatur in den Volkssprachen erschien, wurden viele dieser Texte ins Lateinische übersetzt, um einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden zu können. Übersetzungen von einer in die andere Volkssprache sind demgegenüber für lange Zeit selten. So entstanden bis 1800 mehr als 1000 Übersetzungen aus den Volkssprachen ins Lateinische. Der Blick auf die lingua eruditorum vernacula als Sprache der Gebildeten, der Kirche und auch der Verwaltung ist somit weiterführend und zeigt, welche Nachteile der Aufstieg der Volkssprachen in den einzelnen Kommunikationsdomänen für die Verständigung innerhalb Europas mit sich brachte.

Aufwertung der eigenen Sprache hieß in der Regel auch Abgrenzung von den Nachbarsprachen, wenn nicht sogar deren Abwertung. Diesen «Wettstreit» zwischen den Volkssprachen zeichnet Burke wiederum mit Rückgriff auf zahlreiche Anekdoten nach. Man mag als Germanist hier bemängeln, dass zur Entwicklung der deutschen Sprache zahlreiche einschlägige neuere Publikationen nicht berücksichtigt wurden. Die Vermutung liegt dann natürlich nahe, dass dies auch für Nachbarsprachen wie Französisch, Spanisch, Italienisch der Fall ist. Andererseits werden die zentralen Argumentationsketten, die zur Aufwertung der eigenen Sprache genutzt wurden, auch so sehr deutlich. In ganz Europa wurden ähnliche Aufwertungsstrategien verwendet (Sprachalter, Sprachreichtum, Sprachwürde etc.). So erfuhr die Prestigesprache des 17. und 18. Jahrhunderts, das Französische, auch Ablehnung. Wie immer, so brachte auch hier die neue temporäre lingua franca diejenigen in Harnisch, die sich die Aufwertung und den Ausbau der eigenen Sprache auf die Fahnen geschrieben hatten. So wird etwa vom berühmten englischen Lexikografen Dr. Samuel Johnson kolportiert, dass er mit seinen französischen Besuchern ganz bewusst nicht Französisch sprach, sondern – nein nicht Englisch – vielmehr: Latein. Das wäre doch eine interessante Lösung für manchen, der die heutige Vormachtsstellung des Englischen als lingua franca nicht akzeptieren möchte: Ohne als muttersprachlich bornierter Provinzler zu gelten, könnte man hier sozusagen auf neutrales Terrain ausweichen und weder die kritisierte lingua franca noch die eigene Sprache verwenden. Fürwahr ein (leider) nicht durchführbarer Gedanke.

Der Sprachstandardisierung widmet Burke sich in einem weiteren Kapitel. Dieser Prozess verlief in den europäischen Sprachen unterschiedlich schnell ab. Bei dem vogelperspektivischen Blick bleiben einige Fehlwahrnehmungen nicht aus. So versteigt sich Burke schließlich sogar zu der nicht nachvollziehbaren Behauptung: «Bis heute ist Deutsch eine sehr viel weniger einheitliche Sprache als etwa Englisch oder Französisch.»

In der deutschen Sprache vor allem des 17. Jahrhunderts ist der sogenannte A-la-mode-Stil oder auch makkaronische Stil berühmt-berüchtigt, eine Sprechweise, bei der aus modischen Gründen so viele französische (daneben auch spanische und italienische) Sprachbrocken eingeflochten wurden wie nur möglich. Dies ist ein Aspekt der Sprachmischung, der von zeitgenössischen Sprachkritikern seit jeher gebrandmarkt wurde. Von der Sprachmischung ist es nicht weit zur Sprachreinigung, einem Thema, das zumindest in den Forschungen zur deutschen Sprachgeschichte der Frühen Neuzeit fast zu dominant war. So wurden etwa die Sprachgesellschaften lange Zeit lediglich als Sprachreinigungsvereine diskreditiert. Dass dies zu kurz greift, ist mittlerweile in der einschlägigen Forschung unstrittig. Dennoch verbleibt Burke in seinen Ausführungen weitgehend auf diesem Stand. Dies zeigen seine Ausführungen zur größten deutschen Sprachgesellschaft des 17. Jahrhunderts, zur «Fruchtbringenden Gesellschaft».

Im Epilog widmet sich Burke schließlich dem Thema Sprachen und Nationen. Mit gutem Grund hat er zu Beginn seines Buches bemerkt, dass das Thema der Nationalisierung des Sprachdiskurses erst nach der französischen Revolution, mithin mit dem Beginn des «langen» 19. Jahrhunderts ein Thema wurde. Deshalb steht die Frage, inwiefern die eigene Sprache mit der eigenen Nation (die es ja in den deutschsprachigen Ländern erst noch zu finden galt) verknüpft werden kann, eigentlich außerhalb des historischen Spektrums des Buches. Aufschlussreich ist dieser Brückenschlag über den Untersuchungszeitraum hinaus aber dennoch.

Auf Vor- und Nachteile eines Fluges über die Sprachen Europas in der Frühen Neuzeit wurde bereits hingewiesen. Dass diese Vogelperspektive nicht immer den detailiertesten Blick bieten kann, versteht sich von selbst. Dennoch sollten nicht haltbare Pauschalisierungen vermieden werden. Darunter fallen Behauptungen wie die bereits erwähnte, dass das Deutsche bis heute weniger standardisiert sei, als etwa das Englische oder das Französische, aber auch die, dass die deutsche Sprache bis weit ins 18. Jahrhundert hinein für die Darstellung komplexer und abstrakter Sachverhalte nicht geeignet gewesen sei: «Es ist geradezu erschütternd, wenn man feststellt, wie arm die deutsche Sprache an Abstraktionen bis zum 18. Jahrhundert war.» Erschütternd ist hier eher, dass der Autor die neueren sprachhistorischen Arbeiten, die dieses Vorurteil längst beseitigt haben, nicht zur Kenntnis genommen hat. Dass Luther kurzerhand als Sachse bezeichnet wird, ist ebenso unzutreffend, da er sprachlich keineswegs obersächsisch sozialisiert war.

Insgesamt kann man festhalten, dass die Vorlesungsessays Burkes sicherlich lesenswert sind, genauso wie das – von Burke übrigens häufiger zitierte – Werk von Straßner zur «Deutschen Sprachkultur». Beide Bücher geben einen interessanten Überblick über generelle Entwicklungen in den Volkssprachen und im Bewusstsein der Sprachgemeinschaften der Frühen Neuzeit. Wer es genauer wissen möchte, sollte allerdings die einschlägigen Sprachgeschichten konsultieren.

Von Markus Hundt

Peter Burke: Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10619&ausgabe=200704