Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №17/2007

Literatur

Herta Müller: Barfüßiger Februar

(Fortsetzung aus Nr. 16/2007)

Die große schwarze Achse

Ich fragte Großvater unter den weißen Aprikosenbäumen, ob der Nachbar krank bis in die Augen sei, ob er die Achse unterm Brunnen sieht. Großvater nickte stumm.

Da wollte ich das Auge sehn. Da fragte ich zwei Schritte hinter seinen Sonntagsschuhn: «Nimmst du mich mit.» Großvater blieb stehn: «Die Leni hat seit Dienstagnacht ein Kind. Wenn du es sehen willst, dann nimm ihr Blumen mit.»

Ich schaute um mich her, an meinem Rock vorbei. Im Garten grünte zögernd der Salat und Zwiebelblätter wuchsen wie Schläuche aus der Erde. Die Pfingstrosen hatten über ihren Blättern braune Knospen stehn mit Haut bedeckt wie Fingerknoten. Großvater wischte an seinem dunklen Hosenbein. «Ich komm nicht mit, es blüht noch nichts.» Ich sagte es und schaute nur auf seine Hand.

Großvater hob die Hand über den Kopf und zog den tiefsten Ast des Aprikosenbaums herab. Ich brach zwei Zweige ab. Sie flatterten beim Gehen Schnee über mein Kleid. «Einen gebe ich dem Kranken», sagte ich. Großvater schaute über die Zäune. «Wenn du ihm Blumen gibst, dann schickst du ihn ins Grab.» «Ist er todkrank», fragte ich im Gras. Ich ging einen halben Schritt hinter Großvaters Sonntagsschuhn. Es blühte Meerrettich um ihre Sohlen. Der roch so bitter und war nicht zum Schenken.

«Man sagt nicht todkrank, man sagt schwerkrank, wenn man zu Kranken geht.» Großvater sagte: «Merk dir das» mit halbgeschloßnen Augen.

Der Nachbar lag wie schlafend. Auch sein Mund war zugedeckt mit einer Decke, die so weiß und steinig war vor Stärke wie die Zimmerdecke. Die Stirn des Kranken war durchtränkt vom Wasser. Der Tod war naß.

Großvater setzte sich auf einen Stuhl vors Bett. Er zog die Sonntagsschuhe untern Stuhl und fragte, als wär auch seine Stimme krank: «Wie gehts.» Und bei dem kurzen Fragen schloß Großvater die Augen.

Der Kranke öffnete die Augen groß und grau. Ich sah den Brunnen nicht. «Das Leben, Gregor, ist ein großer Dreck, sonst nichts», sagte der Kranke so laut, daß es geschrieen war. «Und wenn man jung ist, ist man dumm wie Stroh.» Er schaute mit den grauen Augen Leni an. Die drückte beide Hände auf den Mund, daß ihr die Aprikosenzweige auf den Wangen schneiten. «Hör endlich auf», sehrte sie. Ihr Gesicht war jung und welk. Und meine Zweige waren über ihren Händen kahl. Da nahm Leni die Hand vom Mund, die Hand mit den Zweigen. «Der Arzt hat ihm gesagt, er soll nicht nachdenken und soll nicht reden», sagte sie. Und ohne es zu merken, nahm sie auch die zweite, nahm sie auch die leere Hand vom Mund.

Großvater rückte seine Schuhe unters Knie. Ohne Leni anzusehen, fragte er: «Wie gehts dem Kind.» Leni sagte: «Gut. Es wächst.» «Es wächst, wächst wie ein Wurm», sagte der Kranke, «und wenn es großgewachsen ist, wird es dich fragen, wer sein Vater ist. Und du wirst vor ihm stehen wie eine Kuh.» Großvater steckte seine Hände in die Hosentaschen: «Es wird auch ohne Vater groß», sagte er zu seinen Sonntagsschuhn. «Und wenn es fragen wird, dann werd ich sagen: dein Vater war ein Säufer und ein Hurenbock», sagte Leni. Großvater hob das Gesicht. Mit beiden Augen schaute er in Lenis Augen. «Jeder Mensch hat Fehler», sagte er, «und jeder Mensch, der Fehler hat, muß Fehler machen.»

Leni schaute auf den Kranken, und schaute mit der Wange und der Ohrmuschel zu mir, und sagte: «Weißt, der Storch hat mir einen kleinen Jungen, einen kleinen Franz gebracht.» Leni hatte eine Falte auf der Stirn. Die war wie eine Schnur. «Den Vater sucht er noch», Leni legte ihre Hand auf meinen Nacken.

Großvater erhob sich vom Stuhl. Der krachte laut. Der Kranke streckte einen Fuß zum Bett hinaus, als strecke er ihn durch die Zimmerdecke. Sein Hohlfuß war so tief, daß ich von unten seine Augenhöhlen sah.

Im Nebenzimmer schrie der kleine Franz. Es war kein Weinen, nur ein Schreien wars, groß wie die Zimmerwand.

Jetzt stand Leni hinterm Fensterglas. Zwischen den beiden Falten auf der Stirn war Haut über ein Jahr gespannt.

Leni sagte hinterm Fensterglas: «Seit gestern Abend fehlt mein rotes Huhn.» Die Mutter öffnete das Fenster. Ihr Haar flog auf die Straße. Die Fensterflügel standen über Mutters Schultern wie zwei Spiegel. Mutter sagte: «Die Zigeuner sind im Dorf.»

Großvater schob den leeren Teller von sich weg. «Seit heute Morgen, nicht seit gestern Abend», sagte er. Leni schaute in den Fensterspiegel und lächelte, daß ihre Mundwinkel die Wangen ganz verzerrten. «Die junge, magere, die mit dem ausgeschnittenen Kleid, so heißt es, spielt die Genoveva», sagte sie. Und Mutter hatte keine Zeit zum Atmen und flüsterte: «Wer weiß, wo sies gestohlen hat.» Sie wetzte mit den Ellbogen am Fensterbrett. Und Leni schaute über Mutters Schulter in den Fensterspiegel und sagte wie verträumt: «Das Kleid, wer weiß. Aber die hat doch Flöhe.» Die Mutter drehte das Gesicht zu Vater und sagte lachend: «Oben hui und unten pfui.» Vater biß sich auf den Zeigefinger. Und Leni kicherte: «Sie wollte Speck. Ich hab sie fortgejagt.»

Leni ging und eine Wolke stand im Fensterspiegel. Die Mutter stand am Tisch. «Der Storch sucht immer noch den Vater für den kleinen Franz», sagte ich und schaute auf die Straße.

Und Vater ging unter den Baum, dem Hammer nach. Und Großvater ging mit blanker Sense in den Klee, dem Sommer nach. Ich sah, wie sich die Halme vor seinen Füßen niederlegten, als wären sie zu schwer und viel zu müd.

Ich las in meinem Buch: Da drehte sich der Königin das Herz im Leibe um vor Haß.

Die Mutter trug den blauen Eimer in den Stall.

Da ließ die Mutter einen Schatten hinter sich.

Da ließ die Königin den Jäger rufen. Du sollst sie töten, sagte sie zu ihm.

Die Mutter kam mit einer Kette aus dem Stall.

Aber der Jäger hatte ein weiches Herz. Er brachte der Königin das Herz eines jungen Rehs.



wi|schen <sw. V.>: 1. eine od. mehrere Bewegungen bes. mit der Hand leicht reibend über eine Oberfläche hin machen <hat>: mit der Hand über den Tisch w.; sich <Dativ> mit dem Ärmel über die Stirn w.; du sollst nicht immer in den Augen w.; *jmdm. eine w. (ugs.; jmdm. eine Ohrfeige geben); einen gewischt kriegen (ugs.; 1. einen elektrischen Schlag bekommen. 2. verwundet werden). 2. <hat> a) durch Wischen (1) entfernen, von einer Stelle weg an eine andere Stelle bewegen: den Staub von der Glasplatte w.; jmdm., sich [mit einem Tuch] den Schweiß von der Stirn w.; sich den Schlaf aus den Augen w.; Staub w. (durch Wischen beseitigen); b) durch Wischen (1) säubern, von etw. Unerwünschtem, Störendem o.ÿÄ. befreien: jmdm., sich [mit der Serviette] den Mund w.; sich die Stirn w.; sie wischte sich die Augen [um ihre Tränen zu verbergen]; *[nur] zum Wischen sein (salopp; nichts wert sein, nichts taugen); c) (bes. nordd.) mit einem [feuchten] Tuch säubern: den Fußboden, die Treppe w. 3. sich schnell, leise u. unauffällig irgendwohin bewegen <ist>: eine Katze wischte um die Ecke.

flat|tern <sw.ÿV.>: 1. a) unruhig-taumelig irgendwohin fliegen <ist>: ein Vogel flattert durch das Zimmer; b) mit den Flügeln in kurzen Abständen schlagen [u. sich hin u. her bewegen] <hat>. 2. (von Blättern, Papierstücken o.ÿÄ.) vom Wind od. Luftzug bewegt weitergetragen werden <ist>: die Blätter flatterten durch die Luft; Ü eine Einladung ist mir auf den Tisch geflattert (ich habe sie unvermutet, unerwartet bekommen). 3. <hat> a) heftig vom Wind bewegt werden: die Fahne flattert im Wind; b) [aufgrund von innerer Unruhe od. Erregtheit] sich unruhig, zitternd bewegen: seine Hände flatterten nervös; Ü das Herz, der Puls beginnt zu f. (unregelmäßig zu schlagen); c) (ugs.) die [Boden]haftung verlieren u. dadurch unregelmäßig u. heftig vibrieren.

welk <Adj.> [mhd. welc, ahd. welk, urspr.ÿ= feucht, Bedeutungswandel wohl unter Einfluss von ahd. arwelkenÿ= die Feuchtigkeit verlieren]: nicht mehr frisch u. daher schlaff, faltig o.ÿä.: -es Laub, Gemüse; die Blumen werden schnell w.; der Salat ist schon ganz w.; Ü -e Haut.

kahl <Adj.>: 1. a) ohne sonst vorhandene, ohne normalerweise vorhandene Haare, Federn o.ÿÄ.: ein -er Schädel; der Pelzmantel hat viele -e Stellen; k. sein, werden (eine Glatze haben, bekommen); Schafe k. scheren; der Häftling hatte einen k. geschorenen Kopf; b) ohne Laub, unbelaubt: -e Äste, Bäume; Heuschrecken haben die Sträucher k. gefressen (die Blätter völlig abgefressen); c) ohne [sonst vorhandene] Bäume, Sträucher o.ÿÄ.: eine -e Bergkuppe; einen Wald k. schlagen (alle vorhandenen Bäume fällen). 2. ohne normalerweise vorhandene od. erwartete Ausstattung, Möblierung o.ÿÄ.: eine -e Häuserfront; -e Wände.

Hu|ren|bock, der (Schimpfwort): Mann, der mit wechselnden Partnerinnen häufig [u. ausschweifend] Geschlechtsverkehr hat.

Na|cken, der; -s, - : (beim Menschen u. bei bestimmten Wirbeltieren) hinterer Teil des Halses; Genick: einen steifen N. haben; den Kopf in den N. werfen (zurückbeugen); *den N. steif halten (Ohr); jmdm. den N. beugen (geh.; jmdn. demütigen, gefügig machen, unterwerfen); jmdm. im N. sitzen (1. jmdn. verfolgen, dicht hinter jmdm. her sein: der Feind saß uns im N. 2. jmdn. stark bedrängen, jmdm. zusetzen: die Konkurrenz sitzt uns im N. 3. jmdn. erfüllen, beherrschen: die Angst saß ihm im N. [er hatte große Angst]); jmdn. im N. haben (von jmdm. verfolgt u. bedrängt werden).

ver|zer|ren <sw. V.; hat>: 1. a) in entstellender Weise verziehen: das Gesicht, den Mund [vor Schmerz, Anstrengung, Wut] v.; b) bewirken, dass sich jmds. Gesicht o.ÿÄ. verzerrt: Schmerz, Entsetzen verzerrte sein Gesicht; c) <v. + sich> sich in entstellender Weise verziehen: sein Gesicht verzerrte sich vor Wut zur grässlichen Fratze. 2. zu stark dehnen u. dadurch verletzen: sich eine Sehne, einen Muskel v. 3. a) (Optisches) so wiedergeben, dass es nach Länge, Breite überdehnt erscheint u. dadurch fast unkenntlich wird: dieser Spiegel verzerrt die Gestalt; das Bild auf dem Fernsehschirm war verzerrt; b) (Akustisches) auf dem Übertragungsweg durch Dehnen in unangenehmer Weise, oft bis zur Unkenntlichkeit, verändern: die in Morsezeichen übermittelte Nachricht wurde aus Gründen der Geheimhaltung verzerrt; der Empfänger gibt die Musik verzerrt wieder; c) entstellen: die tatsächlichen Verhältnisse völlig v.; eine verzerrte Darstellung.

wet|zen <sw. V.> [mhd. wetzen, ahd. wezzen, zu ahd. hwazÿ= scharf, eigtl.ÿ= scharf machen]: 1. <hat> a) durch Schleifen an einem harten Gegenstand [wieder] scharf machen, schärfen: das Messer, die Sense mit einem Stein w.; b) etw. an, auf etw. reibend hin u. her bewegen: der Vogel wetzt seinen Schnabel an einem Ast. 2. (ugs.) rennen <ist>: er wetzte um die Ecke.

blank <Adj.> [mhd. blanc, ahd. blanch, zu blecken]: 1. a) auf der Oberfläche glatt u. glänzend: -es Metall; -e (leuchtende) Augen; der Fußboden ist b. ([glänzend u.] sauber); etw. b. reiben; ein b. gescheuerter, b. geputzter Boden; b. polierte Gläser; b) (dichter.) hell, leuchtend: in -em Licht; c) (ugs.) abgewetzt: -e Ärmel; ein b. gewetzter, b. gescheuerter (durch langen Gebrauch dünn, speckig, glänzend gewordener) Hosenboden. 2. bloß, unbedeckt: auf dem -en Boden schlafen; sich mit dem -en (ugs.; bloßen ) Hintern auf den kalten Boden setzen; <subst.:> er hat dem Jungen den Blanken (ugs.; den bloßen Hintern) versohlt; *b. sein (ugs.; kein Geld mehr haben). 3. offenkundig, rein, bar: -er Unsinn, Neid.

Aus: Herta Müller: Barfüßiger Februar. Rotbuch Verlag, Berlin 1987. S. 5–23.