Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №16/2007

Wissenschaft und Technik

Karthagische Schule

Der Münchner Germanist Theo Vennemann glaubt, den Ursprung der germanischen Schrift gefunden zu haben – sie kam mit den Phöniziern in den Norden.

Glaubt man germanischen Mythen, dann stammen die Runen von Göttervater Odin höchstpersönlich. Der rammte sich zum Zweck der Bewusstseinserweiterung einen Speer durch den Leib und hängte sich daran auf. Die Visionen, die er während dieser Extrem-Meditation empfing, lehrten ihn, wie man Runen ritzt – und ihre magische Macht nutzt.

In der historischen Realität jedoch lässt sich die Frage nach der Entstehung der ältesten germanischen Schrift nicht so eindeutig beantworten. Zwar sind sich die Wissenschaftler einig, dass die Germanen die spitzwinkligen Zeichen nicht selbst erfanden, sondern eine Vorlage abwandelten. Ob es nun das griechische, etruskische oder lateinische Alphabet war, die alle auf die phönizische Schrift zurückgehen – darüber streiten die Gelehrten. Keine Variante setzte sich durch, auch wenn die Mehrheit der Forscher heute die Latein-Lösung bevorzugt.

Doch nun kommt Bewegung in die sonst so beschauliche Runologen-Szene: Der Münchner Germanistikprofessor Theo Vennemann hat eine These entwickelt, die die herkömmlichen Lehrmeinungen über den Haufen wirft. Danach waren es weder Griechen noch Römer oder Etrusker, die die Germanen zum Runenschreiben inspirierten, sondern die Phönizier selbst, genauer gesagt die Karthager. Bevor die Großmacht von den Römern am Ende des
3. Jahrhunderts vernichtend geschlagen wurde, beherrschte sie mit ihrer starken Kriegs- und Handelsflotte Teile Nordafrikas, Spaniens und die großen Inseln des westlichen Mittelmeers. Vom heutigen Cádiz aus unternahmen die Karthager auch Expeditionen in den atlantischen Norden.

Die Konsequenzen der Karthager-Theorie sind beträchtlich. Datiert man bislang die Geburt der Runenschrift auf das 2. Jahrhundert nach Christus, so verlegt Vennemann ihren Beginn in die Zeit zwischen 500 und 200 vor Christus.

Belegt ist, dass die Karthager in dieser Epoche Expeditionen zu den Britischen Inseln unternahmen, wo Metallvorkommen lockten. In Vennemanns Szenario gründeten sie außerdem Handelsniederlassungen an der kontinentalen Nordseeküste und kamen so in intensiven Kontakt mit der germanischen Bevölkerung. Deren Elite übernahm von ihnen nicht nur die Buchstaben, sondern lernte auch die phönizische Sprache, die wie Hebräisch oder Arabisch zur semitischen Sprachfamilie gehört.

Die These ist klug, die archäologische Beweislage allerdings dünn

Vennemanns Theorie erklärt auf elegante Art einige Besonderheiten der Runenschrift, durch die sie sich vom griechischen, etruskischen oder lateinischen Alphabet gravierend unterscheidet. So beginnt die Reihe der germanischen Buchstaben nicht mit einem A, sondern mit einem F. Außerdem hat jede Rune einen Namen mit einer konkreten Bedeutung. Er beginnt mit dem Laut, für den das jeweilige Zeichen steht. Die F-Rune beispielsweise bedeutet fehu, das heißt «Vieh».

Solche Buchstabenbegriffe gab es weder bei den Griechen noch bei den Römern. Die Zeichen hießen ohne konkrete Bedeutung Alpha, Beta, Gamma oder einfach nur A, B, C. Warum die Germanen ein Alphabet wie das lateinische so radikal verändert und «runifiziert» haben sollten, statt es einfach zu übernehmen, konnten die Runenexperten bislang nicht befriedigend erklären.

Theo Vennemann verweist stattdessen auf die direkten Parallelen zum phönizischen Alphabet. Hier hatte der erste Buchstabe ebenfalls die Gestalt der F-Rune, und er trug, wie alle anderen Buchstaben auch, einen Namen: ’Aleph, also das «Rind», woraus später im Griechischen das bedeutungsleere Alpha wurde. In Wirklichkeit stand ’Aleph bei den Phöniziern allerdings gar nicht für den A-Laut, sondern für einen ganz am Anfang des Wortes stehenden Kehlkopflaut, den die Germanen – und auch die Griechen und Römer – gar nicht hatten. Die Germanen orientierten sich deshalb nicht am Lautwert, sondern übersetzten das Wort ’Aleph mit fehu. Das F-Zeichen setzten sie dann für den Laut ein, der am Anfang dieses Wortes stand.

Noch andere Eigenarten der Runenschrift sprechen dafür, dass die Germanen direkt bei den Phöniziern in die Schule gingen. Ebenso wie die Phönizier verzichteten sie darauf, Doppelkonsonanten zu schreiben oder M und N vor ähnlich artikulierte Konsonanten zu setzen. Im Gegensatz zur Lateintheorie könnte das Vorhandensein karthagischer Schriftmeister im Norden auch erklären, warum die ältesten Runenfunde in Südskandinavien gemacht wurden statt in der Gegend des Limes nahe dem Römischen Imperium.

Bei seinen Fachkollegen stößt Vennemann gleichwohl auf Skepsis. «Ich glaube nicht, dass diese Theorie viele Freunde gewinnen wird», sagt Wilhelm Heizmann, Runenforscher aus München. Er verweist auf einen entscheidenden Schwachpunkt. Die archäologischen und historischen Belege für die phönizischen Nordseestützpunkte sind außerordentlich dünn. Nachgewiesen sind lediglich die Expeditionen zu den Britischen Inseln. Noch schwerer wiegt, dass es keine Runenfunde aus der Zeit vor der Mitte des 2. Jahrhunderts nach Christus gibt. Für Heizmann spricht bislang alles dafür, die Runen als Teil einer kulturellen Blüte zu deuten, die die skandinavischen Germanen der Kaiserzeit im engen Kontakt mit den Römern durchlebten. Die von einigen Sprachforschern vertretene These, die Germanen hätten die lateinischen Buchstaben umgestaltet, um sie für magische Zwecke einzusetzen, klinge allerdings weiter hergeholt als Vennemanns Vorschlag. «Er hat da sicher den Finger auf einen wunden Punkt gelegt», räumt Wilhelm Heizmann ein.

Die archäologische Leere erklärt Vennemann mit den zahlreichen Überflutungen, die die Küstenlinie der Nordsee in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden radikal verändert haben. Dass auch die schriftlichen Quellen so wenig zur karthagischen Nordkolonisierung sagen, könnte an der Geheimhaltungspolitik der karthagischen Handelsmarine liegen, die verbürgt ist. «Zum anderen muss man bedenken, dass Rom als Sieger über Karthago die Überlieferung weitgehend geprägt und die Rolle des Feindes eher heruntergespielt hat», sagt Vennemann.

Dafür stützt der Münchner Germanist seine Runenthese mit weiteren linguistischen Argumenten, die für einen intensiven Sprachkontakt zwischen Germanen und Karthagern sprechen. Vennemanns Ansatzpunkt ist, dass sich etwa ein Drittel des germanischen Wortschatzes nicht auf indogermanische Wurzeln zurückführen lässt. Viele dieser Wörter leitet Theo Vennemann von phönizischen, also semitischen Lehnwörtern her. Dazu gehören so zentrale gesellschaftliche Begriffe wie «Volk», «Sippe» oder «Adel», aber auch Alltagswörter wie zum Beispiel «Münze» oder «Apfel», «treffen» oder «messen».

Die Einheimischen übernahmen das «Ausländer-Germanisch»

Der sprachliche Einfluss der phönizischen Handelsherren reichte möglicherweise bis in die Grammatik. Das System der Ablaute, das gerade im Deutschen bei den starken Verben eine so große Rolle spielt, könnte von ihnen stammen. Denn während diese grammatischen Muster in der indogermanischen Sprachfamilie eine Besonderheit darstellen, sind sie ein Hauptkennzeichen der semitischen Sprachen. Die phönizischen Siedler, so lautet Vennemanns Theorie, lernten zwar Germanisch, stülpten ihm aber unbewusst ihr eigenes Ablautschema über. Ihr Prestige sorgte dafür, dass dieses «Ausländer-Germanisch» allmählich auch von den Einheimischen übernommen wurde.

Ein zusätzliches Argument bezieht Vennemann aus zahlreichen religiösen Übereinstimmungen. Dazu gehört zum Beispiel Odins Sohn Balder, dessen Name und Charakter als «sterbender Gott» verdächtige Ähnlichkeiten mit dem semitischen Ba’al aufweist. «Die Berührungspunkte zwischen der germanischen und der semitischen Sprach- und Kulturwelt waren den Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts durchaus bewusst», sagt Theo Vennemann. «Dass sie im 20. Jahrhundert weitgehend ‹vergessen› wurden, hatte ideologische Gründe.»

Runenschrift – Elitäres Abc

«Rune» bedeutet «Geheimnis». Es steckt im Wort «raunen» ebenso wie in «Gudrun» oder «Sigrun». Runen wurden in Stein, Knochen, Holz oder Metall geritzt. Das englische «to write» wurzelt im germanischen «writan», dem «Runen ritzen».

Das Runenalphabet wird nach seinen ersten sechs Lauten «Fuþark» genannt, ähnlich wie unser Alphabet nach den drei ersten Buchstaben Abc heißt. Der þ-Laut entspricht dem englischen th. Das «ältere Fuþark» der Germanen bestand aus 24 Runen. Im 8. Jahrhundert schrumpfte ihre Zahl auf 16, die das «jüngere Fuþark» bilden.

Nur eine kleine Elite der Germanen beherrschte die Runenschrift. Benutzt wurde sie vor allem für Namen, kurze Mitteilungen, Sprüche oder magische Formeln. Längere Texte wurden nicht mit Runen geschrieben. In den heute deutschsprachigen Gebieten kamen die Runen bereits im 7. Jahrhundert aus der Mode. In den nordischen Ländern hingegen entwickelten sie sich zu einer Alltagsschrift, die in einigen Regionen bis in die Neuzeit verwendet wurde.

Etwa 6500 Runeninschriften wurden bislang gefunden, die meisten davon in Skandinavien. Dort wurden auch die ältesten entdeckt – sie stammen aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. Andere Funde wurden in Deutschland, England, Irland und den Niederlanden gemacht. Durch die Wikinger gelangten Runen sogar nach Russland und Griechenland.

Von Wolfgang Krischke

Der Text ist entnommen aus:
http://www.zeit.de/2007/09/A-Runen?page=all