Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №13/2007

Hauslektüre im Deutschunterricht

Didaktisierungsvorschlag zum Buch von Christine Nöstlinger «Das Austauschkind»

Erstellt von N. Bunjajewa und I. Schorichina, Moskau

Fortsetzung aus Nr. 06, 09, 10, 12/2007

Lesetext
Kapitel 5

Die erste Halbzeit mit Jasper
Sonntag, 19. Juli

Der Papa und die Mama wollten Jaspers Gepäck zu unserem Auto tragen, aber da knurrte Jasper. Er knurrte wirklich. So wie ein großer Hund, dem man den Fleischknochen wegnehmen will. Erschrocken ließen der Papa und die Mama von ihrer Hilfsbereitschaft ab. Jasper packte Binkel, Tasche und Koffer. Den Briefbogen mit dem Gipfelkreuzfoto hatte er vorher einfach fallen lassen und die Mama hatte ihn freundlich lächelnd aufgehoben und zum Papa gesagt: «Er ist halt noch sehr verwirrt! Das ist ja kein Wunder!»

Als wir zum Auto gekommen waren, öffnete der Papa den Kofferraumdeckel und Jasper warf Tasche und Koffer in den Kofferraum. Der Papa wollte den Araber-Wandersmannbinkel hinterherwerfen, aber der Binkel war zum Werfen zu schwer.

«Uff», stöhnte der Papa. «Was hat der Knabe denn da drinnen?» Der Papa hievte den Binkel schnaufend in den Kofferraum. «Der hat an die zwanzig Kilo!» «Das ist garantiert seine Flusskieselsammlung», sagte der Peter. «Die schleppt er meistens mit!» «Interessant, ein kleiner Sammler», sagte der Papa, lächelte dem Jasper zu und deutete auf den Arafatbinkel im Kofferraum. «Stones?», fragte er.

Jasper gab ihm keine Antwort.

«In Austria we have many stones», fuhr der Papa tapfer fort, «if you are interested in stones, you will make eyes by us!»

Jasper gab wieder keine Antwort. Er ignorierte den Papa komplett. Der Papa seufzte und stieg ins Auto. Wir stiegen auch ein. Jasper vorn, neben dem Papa. Die Mama hinten, zwischen dem Peter und mir. Ich überlegte, wie das auf einen Engländer wirken muss, wenn er vernimmt: «You will make eyes by us!» Ich musste grinsen. Peter sagte zu mir: «Dir wird das Grinsen noch vergehen, das schwör ich dir!»

Der Papa versuchte, dem Jasper beim Fahren ein bisschen von der Umgebung zu erklären. «This is the big Oil-Raffinerie!» und «This is a little town named Schwechat.» Und: «This is Zentralfriedhof. All dead people of Vienna are living here!»

Jasper nahm sich nicht die Mühe, nach allen Wiener Toten, die auf dem Friedhof leben, auszuschauen. Auch die schöne Meldung vom Papa: «Now we drive the belt along!» (womit er sagen wollte: «Wir fahren den ‹Gürtel› entlang.» – so heißt nämlich bei uns eine Straße) ließ ihn tief unbeeindruckt. Jasper hatte aus der Latzhosenlatztasche einen Beutel Aschanti geholt. Aschanti samt Schale. Er bröselte die Aschantikerne aus der Schale und mampfte die Kerne. Die Schalen, sowohl die großen Stücke als auch die kleinen, fielen auf seine prallen Hosenbeine. Von dort beförderte sie Jasper auf unseren schwarzplüschenen Wagenboden. Ich schaute verstohlen, aber sehr neugierig, meine Mutter an. Unser Auto innen total sauber zu halten ist eines unserer obersten Familiengebote. Jedes Zuwiderhandeln von mir oder meiner Schwester wurde von meiner Mutter bisher mit langem und lautem Gezeter geahndet. Aber jetzt lächelte meine Mutter noch immer. Bloß ein wenig eingefroren wirkte das Lächeln.

Meine Mutter sagte: «Peter, bitte, sag dem Jasper, dass er mit der Aschantiesserei aufhören soll. Ich habe eine gute Torte für ihn gebacken. Wenn er so weitermampft, hat er keinen Hunger mehr!»

Peter schüttelte den Kopf. «Ich red nur im Notfall mit ihm», sagte er, auf den Sitz von Jasper deutend. «Wir sind nämlich todfeind. Und außerdem» – Peter schaute meine Mutter mitleidig an – «tut er sowieso nie, was man ihm sagt. Der macht eisern das Gegenteil!» «Aber, aber, Peter», sagte meine Mutter. «So arg wird es schon nicht sein!» Ihr Lächeln war jetzt tiefgefroren. «Haben Sie eine Ahnung!» Peter starrte grimmig auf die Nackenstütze vor sich und auf die rotblonden Haarbüschel um die Nackenstütze herum. «Schicken Sie ihn wieder zurück!», sagte er. «Sie kriegen nur Ärger mit ihm!»

Der Kopf von Jasper zuckte von der Nackenstütze weg, Jasper drehte sich zu uns um, steckte den Kopf zwischen den Vordersitzen durch, schaute Peter an und sagte ziemlich leise, aber sehr deutlich: «Shut up, old bloody bastard!» Dann drehte er sich zurück, lehnte sich wieder an die Nackenstütze und widmete sich den Aschantinüssen.

Meine Mutter war leintuchbleich im Gesicht geworden. Leise sagte sie zu Peter: «Ich glaube, er hat verstanden, was du gesagt hast!»

«Na klar», sagte Peter. «Er hat ja Deutsch in der Schule. Ein paar Jahre lang schon!»

«Du sprichst Deutsch, Jasper?» Meine Mutter beugte sich zum Beifahrersitz vor. Es muss sie große Überwindung gekostet haben, jemanden, der gerade derart unanständig geschimpft hatte, freundlich anzureden. «No!», sagte Jasper. Das klang richtig drohend. So wie: Lasst mich in Ruhe oder ich kleb euch eine! Die weitere Heimfahrt verlief in totalem Schweigen. Nicht einmal zum Aussteigen, vor dem Haus, redeten wir. Nur der Jasper knurrte wieder, als der Papa nach dem schweren Arafatbinkel greifen wollte. Wir wohnen im vierten Stock, in einem alten Denkmalschutzhaus, ohne Lift. Eine Wendeltreppe führt zu unserer Wohnung. Wir stiegen sie im Gänsemarsch hinauf. Jasper mit seinem Gepäck als Letzter. «Hilf ihm», raunte die Mama dem Papa zu. «Das ist doch zu schwer für ihn!»

«Er knurrt», raunte der Papa zurück. «Wenn ich ihm sein Zeug abnehme, beißt er sicher!» Trotzdem drehte sich der Papa dann um und fragte: «Would you be so kind and give me a part of your things?» Jasper gab ihm keine Antwort, schüttelte bloß den Kopf und hob seine schwere Fracht von Stufe zu Stufe. «Wer nicht will, der hat schon», murmelte mein Vater. Wir stiegen weiter treppauf. Der Abstand zwischen uns Gepäcklosen und dem schwer schleppenden Jasper wurde von Stock zu Stock größer. Als wir bei unserer Wohnung waren, war er erst im zweiten Stock; zumindestens nahm ich das dem weit entfernten Schnaufen nach an. Meine Schwester empfing uns im Vorzimmer, und zwar mit der Mitteilung, dass statt dem Tom sein Bruder Jasper bei uns logieren werde. «Und wieso weißt du das?», fragte meine Mutter. «Weil ich stundenlang mit den Pickpeers telefoniert hab», sagte meine Schwester nicht ohne Stolz. Der erste Anruf aus London, sagte sie, war schon bald nach unserer Abfahrt gekommen. Da habe ihr ein Mr. Pickpeer mitgeteilt, dass sich sein geliebter Sohn Tom in der Nacht durch einen Sturz über eine Treppe – und nur Gott weiß, warum – ein Bein gebrochen habe. Und dass er deshalb leider nicht nach Wien fliegen könne. Heute schon gar nicht und später auch nicht. Denn ein eingegipstes Kind könne man Gasteltern nicht zumuten. Mr. Pickpeer, sagte Bille, habe noch allerhand gesagt, aber erstens habe er unheimlich schnell geredet, viel zu schnell für ihre mageren Englischkenntnisse, und außerdem sei zuzüglich die Verbindung noch eine sehr knacksende gewesen. «Ich hab dann bei Stollinkas angerufen, aber dort wart ihr nicht mehr!», sagte Bille. «Und eine halbe Stunde später hat dann Mr. Pickpeer wieder angerufen! Er hat gefragt, ob es uns was ausmacht, wenn statt dem Tom sein Bruder kommt. Ich glaub, er hat mich die ganze Zeit für die Mama gehalten. Er hat gesagt, das Geld für den Flug kriegen sie nicht mehr zurück. Und ich hab mir gedacht, es ist ja Wurscht, welcher Pickpeer junior kommt. Und erreichen hab ich euch bei der Großmutter ja nicht können. Und es hat ja schnell gehen müssen. Hab ich’s richtig gemacht?»

Der Papa und die Mama nickten gottergeben. Bille schaute sich um. «Wo ist er denn?», fragte sie. In diesem Augenblick kam von der Treppe her durch die offene Wohnungstür ein erstaunlich ohrenbetäubendes Geräusch, das auch lang anhaltend war, dabei aber leiser wurde. Ein besserer Erdrutsch in verkarstetem Gebiet muss sich so anhören.

«Die Kieselsteinsammlung vom Jasper», sagte Peter ungerührt. «Ich hab mir gleich gedacht, dass das Kopftuch das Gewicht nicht lang aushält!» «Soll man ihm helfen?», fragte meine Mutter zögernd. «Willst dich wieder anknurren lassen?», fragte mein Vater.

«Seid ihr vielleicht komisch!», rief Bille und lief aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Meine Mutter ging in die Küche Kaffee kochen. Mein Vater ging ins Wohnzimmer den Kaffeetisch decken. Peter und ich blieben im Vorzimmer bei der Tür und warteten auf ein böses Knurren vom unteren Stockwerk. Aber kein Knurren kam. Nur sehr viel klick-klick. Wie es eben klingt, wenn man hurtig Steinchen auf Steinchen wirft. Ziemlich viel später, da saßen Peter und ich schon mit der Mama und dem Papa beim Kaffee, kam Bille mit Jasper ins Wohnzimmer. Jasper schleppte wieder seinen steinernen Arafatbinkel, Bille trug Reisetasche und Koffer.

«Bis in den Keller runter sind sie gerollt», schnaufte Bille. «Aber wir haben sie alle wieder! Ganz irre Stücke hat er. Herzen und Nieren. Und welche mit Loch und welche mit Streifen! Einfach gigantisch, was für Steine es gibt!»

«Please, take a seat, Jasper!», sagte meine Mutter und schob den Stuhl, den sie für Jasper vorgesehen hatte, einladend ein Stück zur Seite.

Jasper kam zum Tisch und setzte sich. Seine Finger waren rabenschwarz. Unser Treppenhaus wird selten gewaschen. Wenn man in unserem Treppenhausdreck Steinchen klaubt, muss man solche Finger kriegen. Auch Billes Finger waren dreckig. Bille ging ins Badezimmer. Man hörte das Wasser rauschen. «Jasper, your hands», sagte meine Mama. Jasper besah sich seine Mohnnudelfinger und war sichtlich mit der Beobachtung, dass alle zehn Stück vorhanden waren, zufrieden.

«They are dirty!», sagte meine Mama. Mit Klagestimme. Aber Jasper hatte das Interesse an seinen Fingern verloren. Er schaute auf das Stück Schwarzwälder Kirschtorte auf seinem Teller. Er zog den Teller an sich, betrachtete die Torte eingehend, entdeckte in der weißen Cremefülle eine rote Kirsche, holte sie mit zwei Mohnnudelfingern aus der Buttercreme und steckte sie in den Mund. Die Finger, die er als Essbesteck benutzt hatte, steckte er auch in den Mund. Deutlich sauberer als vorher holte er sie wieder heraus.

«Jasper, go and wash your hands!», sagte meine Mutter. Jasper schaute verbittert. Meine Mutter hielt dem Blick stand. Jasper seufzte, dann holte er ein folienverschweißtes AUA-Erfrischungstüchlein aus der Hosentasche, riss die Folie auf, warf sie auf den Boden, entfaltete das Tüchlein und ribbelte an seinen Händen herum, bis das Tüchlein dunkelgrau war. Hierauf knüllte er es zusammen und warf es auch auf den Boden. Meine Mutter nahm das konsterniert wahr.

«Ein Mordstrumm Saubartl war der schon immer», belehrte Peter meine Mutter. «Und waschen tut er sich nie! Nur im Sommer, am Meer, beim Baden, da geht dann immer eine Schicht Dreck von ihm herunter!» Kaffee trank Jasper nicht. Sein Tortenstück zerlegte er auf Krümel, um zu den Kirschen in der Creme zu kommen. Nur die aß er. Die vermanschten Biskuit-Creme-Schlagobers-Brösel ließ er über.

Nach der Jause führte die Mama Jasper in mein Zimmer und zeigte ihm sein Bett und seinen Tisch und die freie Kastenhälfte.

Jasper setzte sich auf sein Bett. Ob ihm mein Zimmer gefiel oder missfiel, war nicht zu entscheiden. Er zeigte mit ausgestreckter Hand auf mein Bett. «Here sleeps Ewald», sagte meine Mutter eilfertig. «No», sagte Jasper. «I need a room for my own!» Dann stand er auf, watschelte zum Fenster und schaute angestrengt die gegenüberliegende Hausfront an. Wir zogen uns zur Beratung ins Wohnzimmer zurück. Peter riet uns wieder, Jasper postwendend zurückzuschicken. Mein Papa, glaube ich, hätte ihm gern zugestimmt, aber meine Mutter wehrte ab. «Man kann nicht gleich die Flinte ins Korn werfen», sagte sie. «Und dazu noch am ersten Tag! Wie sieht denn das aus?» Bille sagte, ich könne ruhig bei ihr im Zimmer schlafen. Sie habe nichts dagegen! Bille hat ein Gastbett im Zimmer. Für die Oma. Wenn die bei uns übernachtet. Ich ging also in mein Zimmer und packte alles, was ich dringend zum Leben brauche, in einen Wäschekorb. Jasper stand noch immer beim Fenster und schaute das Haus gegenüber an.

«Now you have your own room!», sagte ich zum Jasperbuckel. Ich sagte es sehr freundlich, weil ich heilfroh war, die nächsten sechs Wochen nicht mit dem Kerl in einem Zimmer leben zu müssen.

Fortsetzung folgt

Nach: Christine Nöstlinger: Das Austauschkind. Verlag Beltz, 2. Aufl. 2006.