Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №4/2007

Sonderthema

Ein barocker Weltbürger

Georg Friedrich Händel

Das Wort «barock» hat in den romanischen Sprachen den Nebensinn des Lächerlichen, unmäßig Gezierten und Überladenen. Auch die deutsche Kunstgeschichte bis zu Jakob Burckhardt1 neigt solcher Deutung zu, erfährt Korrektur bei Heinrich Wölfflin2, die aber nicht hindert, dass der Begriff des barockischen Schwulstes zur kritischen Waffe in den Händen von Romantikern und Klassizisten geworden ist.

Die Frage, ob es ein musikalisches Barock gibt, ist umstritten. Die Künste – Malerei, Architektur, Musik und auch die Literatur – entwickeln sich zeitlich nicht synchron, wenn auch über größere Zeiträume gemeinsame Züge vorhanden sind, ja überwiegen. Die Musik des Barocks, also die zwischen 1600 und 1750 entstandene, wird meist mit «Generalbass-Stil» charakterisiert, eine Bezeichnung, die nicht generell zutreffend ist, denn es gibt Werke, besonders für Klavierinstrumente, zu denen auch die Orgel gehört, die sich der Hegemonie der Oberstimme in Begleitung einer akkordtragenden Grundstimme, wie auch dem polyphonen Denken widersetzt haben. Weder Bachs Wohltemperiertes Klavier noch Händels Chorfugen ordnen sich dem Begriff unter.

«Barocco» im Sinne des portugiesischen Ursprungs meint unregelmäßig wie die Form gewisser «schiefrunder» oder eckiger Perlen. Dazu treten Eigenschaften wie die der ornamentalen Unersättlichkeit, die sich nun tatsächlich in Architektur, Plastik und Dichtung so unverkennbar aufzeigen lässt wie in der Musik des siebzehnten und des halben achtzehnten Jahrhunderts.

Unersättlichkeit. Es gibt kaum einen Begriff, der stärker auf den künstlerischen Kern des Barockmusikers Georg Friedrich Händel zutrifft. Von Anbeginn ist der Sohn des Hallenser Baders und Chirurgen ein ruheloser, nach jeder Art von Unterweisung gieriger Geist. Alles an diesem schon äußerlich gigantischen Mann ist großräumig, kolossal, sensatiollell – in geradem Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Johann Sebastian Bach, der eine verhältnismäßig bescheidene Tätigkeit in kleinen Musikstädten Deutschlands ausübt. Fasst man die 20er und 30er Jahre des 18. Jahrhunderts in Händels Biografie zusammen, so ist seine Hinwendung zum Oratorium unübersehbar. Die alte Barockoper mit ihren Göttern und Helden, mit ihren Prunkgewändern, die jedes lebensechte Spiel verhindern, mit ihrer längst gekünstelt und mariniert gewordenen Sprache und ihren kaum noch interessierenden Sujets aus mythischer Vorzeit ist unpopulär geworden.

Musiker im GeneralbasszeitalterDie Vorzüge des Oratoriums bestehen darin, sich in Dichtung und Musik auf symbolhafte Themen einzulassen, abstrakte Begriffe, die jeden Menschen angehen – wie Zeit, Tod, Teufel, Reichtum, Schönheit, Liebe –, aus innerer Sicht zu schauen, der Fantasie unbegrenzte Weiten zuzuweisen, quasi das Drama auf eitle innere Bühne der Vorstellungskraft zu verlegen. Eine tönende Darlegung des Lebens Jesu zwischen Bethlehem und Kalvarienberg war also überhaupt nur in Gestalt eines Oratoriums, eben des Messias, möglich. Händel begegnete der Lebensgeschichte des Erlösers mit der Objektivität eines Dramatikers und mit der Religiösität eines freien, selbstbewussten Christenmenschen. Er stellte den Lebens- und Leidensweg objektivierend, bewusstseinsklar, fast distanziert dar als Kontinuum aus alttestamentarischer Vorgeschichte, Stationen des Neuen Testaments und Ausblick auf das immer währende Königtum Christi. Leben und Leiden des Herrn betrachtete Händel mit stolzer Heilsgewissheit statt mit frommer Zerknirschung. Im Vergleich mit dem pietistisch beeinflussten Altersgefährten J.S. Bach ist Händel der modernere, seiner selbst bewusste Mensch. Darin mag ein Grund dafür liegen, dass Bachs Passionen ein Jahrhundert lang aus dem Bewusstsein «aufgeklärter» Menschen verschwinden konnten, während sich Händels Messias kontinuierlich behauptete.

Zum Aufstieg des Oratoriums spielten auch soziale Faktoren eine bedeutende Rolle. Die Barockoper ist anders als italienisch (und ein wenig französisch) nicht denkbar. Beide Sprachen wurden in England wie auch in Deutschland nur von einer dünnen Oberschicht verstanden. Das Oratorium aber bevorzugte die Landessprache. Zudem war und ist die Oper eine exklusive Domäne der Berufsmusiker, während bei den großen Oratorienaufführungen damals wie heute zumeist Laienchöre das klangliche Fundament bilden. So hat Händel in seiner letzten großen Schaffensperiode ein neues Publikum gefunden. Die Bourgeoisie erkennt in ihm den Künstler englisch-nationaler Glorie. Mythische und biblische Stoffe stehen symbolisch für Phasen britischer Geschichte. Samson, das Dettinger Te Deum, Judas Makkabäus (den die Nationalsozialisten 1939 zum Feldherrn umgedichtet haben), Herkules, Belsazar und Jephtha sind nur die wichtigsten Wellen in diesem Strom des oratorischen Singens.

Bewunderung an dem Mann verdient die Vielfalt seines Schaffens und der nie aussetzende Fleiß. Man kann ihn als Vorbild eines barocken Weltbürgertums bezeichnen, der sich alle nationalen Stile dienstbar gemacht hat, ohne einem ganz zu gehören. Soziologisch buchenswert bleibt seine Wendung vom Luxuskünstler des Adels zum Freskomaler des bürgerlichen Publikums. Eben dieser Zug ins Breite mag Beethovens Enthusiasmus erklären, für den Händel der größte Komponist ist, der je gelebt hat. Allerdings erkannte schon Mozart, wie oft in Händels Musik der sublime Einfall in unerschütterlichem Sequenzieren totgehetzt wird, seine Bearbeitung des Messias merzt gnadenlos das überflüssige Ornament aus. Das späte Barock mit all seinem Glanz und Schwulst, mit dem pompösen Faltenwurf seiner Herrschergebärde, mit der auftrumpfenden Kraft einer Lautstärke, die den inneren Zweifel, mitunter die Verzweiflung überlärmt – in Händels Musik hat es sich erfüllt.


1Burkhardt, Jacob, * Basel 25. 5. 1818,  † ebd. 8. 8. 1897, schweizer. Kultur- und Kunsthistoriker. Gilt als Begründer der wiss. Kunstgeschichte im heutigen Sinn und als Klassiker wiss. Prosa; u. a. Cicerone (1855), Die Cultur der Renaissance in Italien (1860), Weltgeschichtl. Betrachtungen (1905).

2Wölfflin, Heinrich, * Winterthur 24. 6. 1864,  † Zürich 19. 7. 1945, schweizer. Kunsthistoriker. Stellte die Ästhetik des einzelnen Kunstwerks in den Vordergrund; Hauptwerk: Kunstgeschichtl. Grundbegriffe (1915).