Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №12/2009

Literatur

Rolf Schneider
Liebe

Aussagen sind Urteile, mit wieviel Vorsicht und Subjektivität sie auch verschränkt sein mögen. Ich will über Hamburg aussagen. Ich war in meinem Leben insgesamt achtzehn oder zwanzig Tage in Hamburg. Bei solchem Zeitmaß grenzt jegliche Aussage an Vermessenheit. Ich will sie dennoch machen, denn sie wird vorzüglich inspiriert durch ein Gefühl; es heißt Liebe und ist von jener Art, die das Herz auf die Zunge legt. Bedenkt man zudem meinen Wohnort, erhält meine Erklärung, denke ich, den Zuschnitt einer Kuriosität.
Ich liebe also Hamburg, und diese Liebe war spontan, unwiderruflich; sie blieb es bis zum heutigen Tag. Ich erlebte Hamburg erstmals im Februar des Jahres 1965. Ich hatte eine Reise hinter mir, die mich durch Hessen, Bayern, Baden-Württemberg gejagt hatte; sie war mit Kultur, Politik, Studenten, Verlegern und Literatur, hauptsächlich eigener, befaßt gewesen. Blöde vor Überdruß und Erschöpfung bestieg ich zu mitternächtlicher Stunde einen aus Basel kommenden Schnellzug, verbrachte die Nacht auf einem Kopfkissen der Deutschen Bundesbahn, in einem überheizten Abteil und in der Gesellschaft von Männern mediterraner Herkunft; viele Stunden reiste ich so und verspürte nur noch einen Wunsch: den nach meinem angestammten Bett. Ich vergaß ihn alsbald. Ich setzte meinen Fuß in den Bahnhof von Hamburg-Altona und atmete eine Luft ein, die nach Salz, Feuchtigkeit, Frost und jedenfalls ungemein sauber schmeckte.
Ich fuhr mit einem Wagen eine breite Straße entlang, deren Schilder mir mitteilten, daß sie Reeperbahn heiße: Dies verwirrte mich zutiefst, denn in meinem durch allerlei zivilisatorische Abfallnachrichten verstörten Gehirn verband sich mit diesem Straßennamen die Vorstellung von einer freudlosen Gasse, darin Nepp und Luderleben dem verschreckten Fremdling an die Gurgel wollen. Ich fuhr bis zur Binnen­alster und erblickte, in einer gleichsam träumerischen Ergriffenheit, den schönsten und nobelsten Großstadtmittelpunkt, den ich kenne. Später fuhr ich zur Kirchenallee und sah das Deutsche Schauspielhaus im Angesicht des Hauptbahnhofs, und dies las ich so: Kunst und Verkehr als Stätten lustvoller Nützlichkeit, aufeinander bezogen, denn, nicht wahr, in beiden Fällen erwirbt man für Geld ein Billett und mit diesem das Recht, einen Fauteuil zu benutzen, auf daß etwas mit einem geschehe. Dergleichen Nachbarschaft in Hamburg hat vermutlich höchst profane Gründe. Ich vermute Städtebau und Bodenrecht. In einem höheren Sinne aber scheint sie mir vernünftig und eines auf jeden Fall: demokratisch. Ganz Hamburg erscheint mir demokratisch. Ich weiß, was ich damit sage und welchen Widersprüchen ich mich damit stelle: verbalen und faktischen auch.
Was die verbalen betrifft, so wurde mir fast immer, wenn ich meiner Liebe schwärmerisch Erwähnung tat, der Einwand zuteil, Hamburg sei versnobt, kunstfremd, kontaktfeindlich und kastenstreng. Daran erscheint mir zunächst so viel wahr, daß in Hamburg ein Klima menschlicher Zurückhaltung herrscht, und das ist mir entschieden lieber als alle Formen bierdünstender Umarmung, welche in anderen deutschsprachigen Landstrichen gesellschaftsüblich sind.

Fortsetzung folgt

Aus: Rolf Schneider: Annäherungen & Ankunft.
Hinstorff Verlag, Rostock 1982. S. 220–232.

 

 

Der Abdruck folgt dem Original von 1982 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

ver|schrän|ken <sw. V.; hat>: (Gliedmaßen) über Kreuz legen: sie verschränkte die Hände hinterm Kopf, die Arme auf der Brust, vor der Brust.

jeg|li|cher, jegliche, jeg|li|ches <Indefinitpron. u. unbest. Zahlw.> [mhd. ieclich, iegelich, ahd. iogilih, zusger. aus: io, eo = immer (je) u. gilih = gleich (welcher), jeder] (nachdrücklich, veraltend): jeder, jede, jedes.

Ver|mes|sen|heit, die; -, -en: das Vermessensein; Hybris. ver|mes|sen <Adj.> (geh.): sich überheblich auf die eigenen Kräfte od. auf das Glück verlassend: ich habe eine -e Bitte; das wäre zu v.!; eine v. klingende Behauptung.

vor|züg|lich <Adj.>: in seiner Art od. Qualität besonders gut; ausgezeichnet, hervorragend: ein -er Wein, eine -e Arbeit, ein -er Aufsatz; er ist ein -er Reiter, Kenner der Materie; die Methode hat sich v. bewährt; wir haben ganz v. gespeist.

un|wi|der|ruf|lich <Adj.>: nicht zu widerrufen, endgültig feststehend: meine Entscheidung ist u.

Über|druss, der; -es: Widerwille, Abneigung gegen etw., womit jmd. [ungewollt] sehr lange eingehend befasst war: aus Ü. am Leben; bis zum Ü. streiten; Zeichen von Ü.

me|di|ter|ran <Adj.> [lat. mediterraneus, eigtl. = mitten im Lande, in den Ländern, zu: medius, Medium u. terra = Land] (bildungsspr., Fachspr.): dem Mittelmeerraum angehörend, eigen: die -e Flora.

an|ge|stammt <Adj.> [zu veraltet anstammen = durch Abstammung erwerben]: durch Erbschaft od. Tradition erworben; überkommen: -er Besitz; diese Rechte sind a.

Nepp, der; -s (ugs. abwertend): 1. das Neppen: das ist der reinste N.! 2. minderwertiges Produkt, minderwertige Dienstleistung: da hast du dir einen schönen N. andrehen lassen. nep|pen <sw. V.; hat> (ugs. abwertend): durch überhöhte Preisforderungen übervorteilen: in dem Lokal wird man geneppt.

 

Rolf Schneider

(* 17. April 1932 in Chemnitz) ist ein deutscher Schriftsteller. Er ist der Sohn eines Werkmeisters und einer Textilarbeiterin. Er wuchs in Wernigerode im Harz auf, wo er die Oberschule besuchte und in einem Volkseigenen Betrieb arbeitete. Von 1955 bis 1958 studierte er Germanistik und Pädagogik an der Universität Halle-Wittenberg; er beendete das Studium mit dem Grad eines Diplom-Germanisten. Anschließend war er Redakteur der kulturpolitischen Zeitschrift «Aufbau» in Berlin. Seit 1958 ist er freier Schriftsteller.
Schneider war einerseits als Verfasser zahlreicher Hörspiele und Theaterstücke ein regimetreuer Autor, andererseits nahm er schon früh an Tagungen der Gruppe 47 teil und hatte die Möglichkeit, ins westliche Ausland (Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Frankreich) zu reisen. Ab 1976 wurde seine Haltung gegenüber den Zuständen in der DDR zunehmend kritischer. Im November 1976 gehörte er mit zu den Unterzeichnern der Protestresolution von DDR-Autoren gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, woraufhin seine Publikationsmöglichkeiten in der DDR von staatlicher Seite stark eingeschränkt wurden. 1979 erfolgte sein Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR. Schneider, der laut eigener Aussage weiterhin an die Reformierbarkeit der DDR glaubte, arbeitete in den folgenden Jahren vorwiegend als Theaterautor und Dramaturg an den Stadttheatern in Mainz und Nürnberg. Öffentliche Auftritte in der DDR waren nur noch im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen der DDR-Protestbewegung möglich.
Schneider lebt heute in Schöneiche bei Berlin.
Rolf Schneider ist Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland.

Werke: Aus zweiter Hand (1958), Das Gefängnis von Pont l’Evêque (1960), Godefroys (1961), Der Mann aus England (1962), Prozeß Richard Waverly (1963), Brücken und Gitter (1965), Die Tage in W. (1965), Prozeß in Nürnberg (1967), Zwielicht (1967), Dieb und König (1968), Stimmen danach (1970), Der Tod des Nibelungen (1970), Stücke (1970), Einzug ins Schloß (1972), Octavius und Kleopatra. Die Heiligung Johannas (1972), Nekrolog (1973), Von Paris nach Frankreich (1975), Das Glück (1976), Orphée oder ich reise (1977), Der alte Mann mit der jungen Frau (1977), Die Abenteuer des Herakles (1978), November (1979), Die Mainzer Republik (1980), Annäherungen & Ankunft (1982), Unsterblichkeit (1984), Der Fall des Hauses Plantagenet (1984), Marienbader Intrigen (1985), Bewerbungen (1986), Jede Seele auf Erden (1988), Levi oder die Reise zu Richard Wagner (1989), Theater in einem besiegten Land (1989), Frühling im Herbst (1991), Volk ohne Trauer (1992), Berliner Wege (1992), Der Harz (1992), Thüringen (1993), Leben in Wien (1994), Die Briefe des Joseph F. (1995), Die Sprache des Geldes (1995), Versuch über den Schrecken (1995), Notlandung (1996), Alltag im Mittelalter (1999), Ich bin ein Narr und weiß es (2001), Wagner für Eilige (2002), Jakobs Kindheit (2005), Berlin, ach Berlin (2005).