Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №12/2008

Das liest man in Deutschland

Gott und die Welt

Fortsetzung aus Nr. 11/2008

Vor 200 Jahren ist Goethes «Faust» erschienen, der uralt, sehr modern und ganz aktuell ist.

Eine «Schwammfamilie» sei dieser Faust, hat Goethe also zutreffend gesagt, aber was soll man mit solch einer Schwammfamilie anfangen? Und wie? Natürlich hilft Losblättern, irgendwo anfangen. Man liest dann ja von allein weiter, etwa von hier aus: «Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen…» (Vers 3362), denn ein Experte für Angst ist heute fast jeder. Oder von hier: «Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben / Und Fluch vor allen der Geduld…» (Vers 1605 f.), denn gejagt fühlen sich viele. Oder von hier, Margaretes irrer Klagegesang: «Meine Mutter hab’ ich umgebracht / Mein Kind hab’ ich ertränkt / War es nicht dir und mir geschenkt?» (Vers 4507 ff.). Gretchens klare Sprache des Wahnsinns kann jeder verstehen. «O weile!», sagt die Kindsmörderin zu dem Geliebten, «Weil’ ich doch so gern wo du weilest», und jagt gleich wieder hoch: «Geschwind! Geschwind! / Rette dein armes Kind.»
Es ist hier, als sei die Zeit selbst verrückt geworden, von einem Vers zum nächsten, als sei ein Maß für Ruhe und jagende Eile im Furor des Ungeduldigen für immer zerbrochen. Eine «Rastlosigkeitstragödie» hat der Faust-Experte Michael Jäger das Drama in seinem jüngsten Buch Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart genannt.
Die Katastrophe des Fortschritts, die historisch neuartige Entwertung der Gegenwart, auf die sofort ein Neues, ein Besseres folgen soll, treibt Goethe in den Jahren um, in denen er den Faust wieder vornimmt, der seit 1790 in der Schublade lag. Es sind Jahre, in denen Goethe sich gegen die Unruhe stemmt und gegen die atemlose Erfahrung einer sich wissenschaftlich wie politisch überstürzenden Moderne, die sich in das Zeichen des Fortschritts stellt. Im Juni 1797 schreibt Goethe an Schiller, er setze sich wieder an den Faust, «da es höchst nötig ist, daß ich mir, in meinem jetzigen unruhigen Zustande, etwas zu tun gebe».
Das liegt nicht zuletzt daran, dass er jetzt Tag und Nacht in der empirischen Erforschung einer Natur steckt, die jedem Generalisten über den Kopf wachsen muss. Er schreibt nun in einem Brief, die Zeit überschlage sich «wie ein Stein vom Berg herunter und man weiß nicht, wo sie hinkommt und wo man ist». Und über die Wissenschaftler und Philosophen um Humboldt oder Fichte im benachbarten Jena: «Unglaublich aber ist’s, was für ein Treiben die wissenschaftlichen Dinge herumpeitscht und mit welcher Schnelligkeit die jungen Leute das, was sich erwerben lässt, ergreifen.» Er versucht, alles nachzuvollziehen und möglichst viel selbst zu forschen.
Mit Schiller gemeinsam fängt Goethe an, gegen jeden Dilettantismus, jede Modeverliebtheit in Kunst und Wissenschaft zu polemisieren, die kommen ihnen unangemessen vor angesichts der Umstürze im Nachbarland, das Publikum soll sich wenigstens aus der Barbarei und halbgebildeten Oberflächlichkeit rausbewegen! Und zugleich dilettiert Goethe selbst, es geht ja nicht anders, wenn man alles im Blick haben will.

Die Kunst kann das Vergangene im Gegenwärtigen zeigen
Seit der Französischen Revolution schon hat er seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten eine Art «Asyl» vor der politischen Moderne gesucht, wie der Philosoph Walter Benjamin es nannte. Seither ist seine naturwissenschaftliche Arbeit zugleich Erkenntniskritik und Ästhetik. Jetzt denkt er nach über die «Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge», es entsteht der Begriff der «Naturlangsam­keit», und gegen die Flüchtigkeit der geschichtlichen Gegenwart will Goethe nun Pflöcke einrammen: wissenschaftlich durch die Arbeit am alles durchziehenden Naturgesetz des Gegensatzes, der «Polarität», erkenntnistheoretisch gegen Newton durch die Arbeit an seiner Wahrnehmungslehre, und dann durch eine Kunst, die wider die flüchtige Moderne etwas Besonderes kann. «Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit.» Sie kann das, weil sie nicht der rasenden Flüchtigkeit der Zeitgenossen zum Opfer fallen muss, sondern mit einer an der Natur geschulten ruhigen Aufmerksamkeit «das Vergangene im Gegenwärtigen sehen» kann. So will er das jedenfalls. So macht er das beim Faust.
Nicht als Naturimitat, sondern als frei soll sich die Kunst neu zeigen, als ernstes Spiel mit der Fiktion also, als Kunst auf der Höhe der Zeit. Und so verwandelt Goethe den Faust-Stoff nun in ein Spiel im Spiel im Spiele, wie Schöne es nennt, in dem das Faust-Geschehen sich immerfort bricht und spiegelt, von einem Gegensatz zum nächsten verändert, als ginge es darum, das Prinzip der Polarität ebenso ins Werk zu setzen wie das der Metamorphose als «Verwandlungslehre». Kein Faust, der nicht in einem Wagner sein Gegenüber fände, kein Ostern, das sich nicht in ein Hauen und Stechen verwandelte, kein Gretchen ohne Frau Marthe.
Jedes Motiv verwandelt fortan seine Bedeutung, je nachdem, in welcher Polarität es auf der Bühne erscheint. In jeder Erscheinung kann man ihr Gegenteil, in jedem Gegenwärtigen ein Vergangenes wahrnehmen lernen. Selbst in den legendären Szenen stecken ja angeeignete «fremde Schätze», wie Goethe gesagt hat, nicht nur die biblische Hiob-Geschichte, sondern in der Klage über die «zwei Seelen, ach» nebenbei auch ein Lustspiel von Wieland, im Fluch auf Glaube, Hoffnung und Geduld der neutestamentarische Korintherbrief, in Fausts Ringen um die Übersetzung des Johannesevangeliums einige verblüffend ähnliche Überlegungen des Philosophen Herder.
Es ist ein großes Versteck- und Verwandlungsspiel aus alldem geworden, ein Welttheater neuen Typs, enzyklopädisch in Form und Motiven. Das klingt nach Jahrmarkt. Aber worum es geht, ist nichts anderes als die Frage, ob «der Mensch zu retten ist», wie der Germanist Gerhard Kaiser dargestellt hat. Das Thema des Spektakels ist das Überleben der Menschheit, die der blinde Mann Faust, der gegenwartslose Egomane mit seinem Weltsanierungsprojekt zur Strecke bringt. Zum Schluss wird dieser Faust sagen: «Ich bin nur durch die Welt gerannt.» Er kennt Goethes Demut gegenüber der Schöpfung nicht. Und, so kurios es heute klingt, auch Goethes naturkindliche Demut gegenüber dem Weiblichen, dem Mütterlichen, das gebären kann, ist diesem Faust unbekannt.
Frühling, Übergangszeit, Sattelzeit: Während Faust schon am Ende der ersten Szene mit der Welterkenntnis weitgehend am Ende ist und fortan nur noch an der Expansion seines Ichs interessiert, soll sich sein Leser und Zuschauer ruhig mit der Vergangenheit und Zukunft des Abendlandes im Drama befassen. Soll Faust sich verblendet zu Tode eilen, das Werk selbst braucht «Naturlangsamkeit», notfalls lebenslang. Also Kunst, ohne die sich nicht wahrnehmen lässt, was hinter Mord und Totschlag wirklich geschieht.

Vom Christentum hat Goethe das Wort Erbarmen entliehen
Und Ostern? Dass Ostern etwas anderes ist als die langsame Metamorphose, hat der naturfromme und todesängstliche Goethe gewusst. «Erbarme dich und lass mich leben!», wird die wahnsinnige Margarete den Faust am Ende flehentlich bitten, solches Erbarmen kennt der natürliche Kosmos aus Pflanzen, Knochen, Steinen und Wolken nicht, den Goethe gerne erkundet. Fast wundert man sich, dass Goethe in dieser letzten Szene des Faust dem Christentum sein Ureigenstes, das Erbarmen, entleiht. «Aneignung fremder Schätze»!
Denn das Ganze ist schließlich Kunst: dass das himmlische Zeichen an Ostern seinen polaren Gegensatz in den höllischen der Walpurgisnacht finden wird und eine späte Antwort im Ewigweiblichen; dass Mephisto als Negation von Ostern auf den Plan tritt, als Element von Gottes Schöpfungsplan zugleich und als ein anderer Motor des Lebens; dass ohne Ostern kein Frühling wäre, der die Leute so bühnen- und gefühlswirksam ins Offene treibt; dass Ostern zwar offenkundig Fausts Leben über den Tod siegen lässt, aber doch nicht verhindert, dass Faust alsbald töten wird; dass Ostern also gebraucht wird, damit das Drama mit seinen Widersprüchen in Gang kommen kann, auch damit man von der Polarität mehr versteht, aus der im Goethe’schen Denken Neues entsteht. Außerdem: Als Metapher der Übergangszeit, die um 1800 zwischen Ancien Régime und industrieller Revolution, individueller Moderne die wacklige Brücke bildet, ist Ostern auch nützlich.
Ostern, das Auferstehungsfest: Wie sinnvoll das somit für die Ästhetik der deutschen Klassik und für diese schöpfungsreligiöse Tragödie sein kann! Die gemeindet das Christentum in ihre Verse ein, um besser zeigen zu können, wer Faust ist. Als ließe sich das Offenbarungsgeschehen von Menschenhand irgendwo einbauen. Und so ist Ostern plötzlich in der Kunst als ein Gegensatz des Kunststücks zu sehen. Zu Ostern 1808, vor 200 Jahren, ist also Goethes Faust erschienen. Der Tragödie I. Teil.

Von Elisabeth von Thadden

Der Text ist entnommen aus: http://www.zeit.de/2008/13/L-Faust-Ostern?page=all