Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №9/2008

Sonderthema

Max Frisch und die Deutschen

Wie einer mit dem hadert, was ihm lebenslang verbunden ist, gehört wohl zu den existenziellen Erfahrungen eines Schriftstellers. Max Frisch hat nie verschwiegen, was ihn verletzt hat in seinem Land, sich immer wieder damit auseinandergesetzt, zuletzt noch in dem szenischen Poem Schweiz ohne Armee?. Da fragt der Großvater den Enkel, was ihm auf die Nerven gehe – und dieser antwortet: «Euer Patriotismus ... auch der deine, Großvater.» Sein einstiger Nachbar und zehn Jahre jüngerer Landsmann Friedrich Dürrenmatt hatte über den Freund gesagt: «Ich komme vom Denken. Ich muss es nicht gemacht haben, der Frisch muss alles erleben.» Architekt und Schriftsteller, ein Schweizer Bürger, während des Krieges eingesperrt in seinem Land. Max Frisch wurde darüber zum Weltbürger, dessen Abneigung gegen Routine sein Denken und Schreiben bestimmte.

Er trug die Utopie in sich, dass der Mensch wach und wandlungsfähig sei. Und er reiste viel, vor allem immer wieder nach Deutschland, dem heimlich-unheimlichen Nachbarn, dem er das Stück widmete Nun singen sie wieder aus dem Jahre 1945. Dieses Requiem auf die Opfer deutscher Kriegsverbrechen zeigt den Bühnenautor Max Frisch bei seinem Generalthema: der gesellschaftlichen Sittlichkeit. Frischs Stiller versagte als Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg, und Faber versagte, als es galt, jüdische Flüchtlinge zu schützen. Der Lehrer im Schauspiel Andorra – auch er ein Stiller – versagt vor dem Schicksal des Knaben Andri. Der Moralist Frisch hat nie den Eindruck zu erwecken versucht, als sei dieses Versagen ein spezifisch deutsches Problem. Das Schicksal seiner Protagonisten beruht auf der Verantwortungslosigkeit ihres Handelns. Es gibt aus der Sicht Max Frischs die verdinglich­te Welt, die den Menschen sich selbst entfremdet hat. Stiller und Faber scheitern, müssen schließlich daran scheitern, dass sie nirgendwo moralisch zu genügen vermögen, vor allem nicht in der Verantwortung angesichts der Not ihrer Mitmenschen.

Er war ein «Notwehrschriftsteller», ein Autor, der seine Passionen nicht verleugnete, der sich bekannte, sich dem Leser überantwortete, Reflexe, die in seinen Romanen, in Gantenbein, in Stiller und in Homo faber ebenso kenntlich wurden wie in seinem Theaterschaffen. Was bin ich? hieß seine erste literarische Arbeit aus dem Jahr 1932: «Und wenn ich Romane schreiben würde? Oder Novellen? Oder Komödien? Und wenn ich hineingreifen würde in diesen Strom von Ideen und Empfindungen, wenn ich diese schillernden Farben ans Ufer reißen würde und, statt sie alle verströmen zu lassen, sie in feste Worte gießen würde, wenn ich denen da sagen würde, wie es aussieht in mir ...»

Ein Klassiker inmitten der Gegenwart
Als «Neutraler» hatte Frisch in den Jahren 1946 bis 1949 die Möglichkeit, das von den Schrecken des eben zu Ende gegangenen Krieges geschlagene Europa auf zahlreichen Reisen in Augenschein zu nehmen. Und er fuhr vor allem immer wieder in das zerstörte Deutschland. Aus diesen Jahren stammen seine Tagebuch-Aufzeichnungen, deren Scharfsicht oft auch die Witterung für neue Reduzierungen der Menschlichkeit angesichts der gerade beendeten Todeskämpfe zu erkennen gibt. Damals ist seine Geschichte vom «andorranischen Juden» entstanden. Dieses Tagebuch enthält auch die drei nicht abgeschickten Entwürfe eines Briefes an einen jungen Deutschen, einen ehemaligen Obergefreiten. Mit diesem fiktiven Adressaten setzt sich der junge Autor über die Problematik der deutschen Schuld und ihrer Verdrängung auseinander. Da heißt es: «Unser Glück blieb ein scheinbares. Wir wohnten am Rande einer Folterkammer, wir hörten die Schreie, aber wir waren es nicht selber, die schrien; wir selber blieben ohne die Tiefe erlittenen Leidens, aber dem Leiden zu nahe, als dass wir hätten lachen können ...»

Max Frisch war kein Eremit im Elfenbeinturm, kein weltfremder Eigenbrötler. Als Böll in den siebziger Jahren ein Praeceptor Germaniae wurde, als Grass sich längst schon in einen politischen Kämpfer verwandelt hatte – da blieb ein Autor wie Max Frisch sich und seinen Themen weiterhin treu, ein «Klassiker inmitten unserer Gegenwart», wie ihn damals Reich-Ranicki nannte. Weder hatte er zu tun mit jener seinerzeit gefragten Synthese von Kunst und Propaganda, noch wollte er wie der Kollege Siegfried Lenz seinem Publikum eine Deutschstunde erteilen. Überhaupt hielt Frisch wenig von Lektionen, darin war er grundverschieden von der Attitüde vieler seiner Mitstreiter in Hans-Werner Richters legendärer «Gruppe 47». Dort saß der Schweizer Frisch wie selbstverständlich neben Koeppen und Peter Weiss, neben Walser – und eben auch neben der für ihn später so wichtig gewordenen Ingeborg Bachmann. Frischs Mentalität und Sensibilität speisten sich nicht aus dem Außenseitertum, aus dem Geist der Rebellion, des Unversöhnlichen und des Zerrissenen. Er war auch schon in diesen frühen Jahren ein zutiefst bürgerlicher Schriftsteller, ein distanzierter und schmunzelnder Beobachter, ein ironischer und meditierender Zeuge, ein urbaner Humorist – im Grunde ein Ankläger wider Willen und sehr undeutsch.

Und doch brauchte er dieses Deutschland. Daheim in der Schweiz bedrückte ihn die Enge einer zur Selbstgefälligkeit erstarrten Zivilgesellschaft, deren Behörden sich nicht entblödeten, ihre Autoren insgeheim überwachen zu lassen, als handele es sich um potenzielle Vaterlandsverräter. So war Frisch sowohl ein profunder Kenner bürgerlicher Idylle als auch einer ihrer verlässlichsten Kritiker. Am 1. August 1957, dem Schweizer Nationalfeiertag, hielt Frisch in Zürich eine Ansprache an seine Landsleute, die er ebenso gut auch in Hamburg oder Berlin hätte halten können. Seine Rede schloss mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der eigenen, persönlichen Verantwortung: «Und das ist der Punkt, der für die Freiheit sehr viel zu bedeuten hat; die eigene persönliche Verantwortung, das Risiko. Es gibt keine Freiheit ohne Risiko.»

Und dann vor allem Brecht: Die Begegnung mit dem aus amerikanischem Exil zurückgekehrten Stückeschreiber 1948 in Zürich war für Max Frisch prägend. Ein bekanntes Bild zeigt Brecht und Frisch auf der Baustelle. Brecht lobt ihn: Er, Frisch, habe als Architekt einen ehrlichen Beruf. Doch der Architekt Frisch fühlt sich dem Schreiben näher als dem Bauen. An Brecht bewundert er: «Eine schöpferische Geduld, wieder von vorn anzufangen, Meinungen zu vergessen, Erfahrungen zu sammeln und zu befragen, ohne ihnen die Antwort aufzudrängen.» Die Fähigkeit zu unabhängigem Denken und Handeln, die er bei Brecht zu entdecken glaubt, wird er bei sich selbst ausbilden. «Ich war für ihn ein maßlos untrainierter Sozialist. Ich bin der politischen Diskussion ausgewichen. Er hat mich nicht ideologisieren können, aber mir politische Verhältnisse deutlich gemacht.»

Was Brecht für das Theater wollte, entwickelte Frisch im Roman: Verfremdung als Kunstziel. Indem er auf sich blickt, erlebt er das Eigene als etwas Fremdes. Ob Faber oder Stiller, ob Geiser (Der Mensch erscheint im Holozän)oder Doktor Schaad (Blaubart)– immer ist da auch das Ego des Autors mit zur Stelle, das «sich selbst lesen zu können» versucht. War dies eine Flucht aus dem Leben in die Literatur, wie manche Frisch-Interpreten behauptet haben? Jeder Mensch, so sagte er, «erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die mit Namen und Daten zu belegen sind, sodass an ihrer Wirklichkeit, scheint es, nicht zu zweifeln ist. Trotzdem ist jede Geschichte, meine ich, eine Erfindung. Und daher auswechselbar.» Damit war ein Grundakkord in Frischs Werk angeschlagen: Das Individuum, das an sich selbst arbeitet; der Autor, der sich mit seinen Romanfiguren neue Identitäten schafft, eine für die Literatur seit Gottfried Keller, Theodor Fontane und Thomas Mann charakteristische Erscheinungsform. Die Suche nach einer neuen Identität – bei Stiller, bei Faber, bei Gantenbein – entspricht dem Versuch, der bürgerlichen Existenz zu entkommen, einem Milieu zu entfliehen, in dem Frauen eine gewisse Störfunktion haben. Frischs große Romanerfolge aus den fünfziger und sechziger Jahren sind im Grunde Eheromane. Am deutlichsten lässt sich dies am Stiller zeigen: Seine drei oder vier Ehen erweisen sich alle als Misserfolge. Es gibt Reminiszenzen an Effie Briest oder Anna Karenina. Frischs Helden schlagen sich mit Konflikten herum, die bereits literarisch gestaltet sind. Man lebt in der Wiederholung. Bei Büchners Lenz heißt es am Ende: «So lebte er hin ...» Und Frisch schreibt über seinen Stiller: «Stiller blieb in Glion und lebte allein.»

Politisch und selbstkritisch
In den sechziger Jahren entdeckte Frisch die Politik für sich. Er trat für einen demokratischen Sozialismus ein, artikulierte sich zunehmend politisch und hielt sich mit literarischen Veröffentlichungen auffallend zurück. Er war bereits ein weltberühmter Autor. 1953 zierte sein Kopf das Titelbild des «Spiegels»: «Logenplatz im Welttheater.» Vor allem die Theaterstücke hatten ihn bekannt gemacht, auch reich – Biedermann und die Brandstifter (1958), Andorra (1961). Er hält sich oft für längere Zeit in Deutschland auf, pflegt auch Kontakt zu Künstlern und Schriftstellern in der DDR. Mit Uwe Johnson verbindet ihn eine enge Freundschaft, aus der Sicht des Jüngeren fast eine Vater-Sohn-Beziehung. Im zweiten Tagebuch beschreibt er ein Treffen mit Christa Wolf 1968 in der Sowjetunion: «Gespräch mit Christa Wolf und ihrem Mann bis vier Uhr morgens, draußen die helle Nacht über Wolga und Land. Labsal: dass man Widerspruch gelten lassen kann. Lange Zeit saß ein sowjetischer Genosse dabei, der zuhörte, aber mich nicht störte. Er scheint berichtet zu haben: heute wissen meine Funktionäre, dass es ein sehr interessantes Gespräch gewesen sein soll, das wir geführt haben.» Frischs Tagebücher konnten in den siebziger und achtziger Jahren in der DDR nur zensiert erscheinen.

Die Schweiz als Heimat heißt eine seiner Reden. Die Mundart, sagt er da, halte das Bewusstsein in uns wach, «dass Sprache, wenn wir schreiben, immer ein Kunst-Material ist». Dagegen: «Was mich mit diesem Staat heute noch verbindet: ein Reisepass.» Das schreibt er einen Monat vor seinem Tod.

Helmut Schmidt empfand ihn «immer als einen deutschen Schriftsteller». Er hatte einige seiner Romane gelesen, Aufführungen seiner Theaterstücke mit­erlebt. Als Frisch starb, schrieb er: «Ich verdanke ihm Anregung, Belehrung und Unterhaltung zugleich.» 1975 nahm er den Schweizer Schriftsteller mit bei seinem Staatsbesuch in Peking: «Ich fühlte mich zu Frisch hingezogen, es entstand eine Freundschaft aus der Distanz zwischen dem humanitären Moralisten, dem Schreiber Frisch, der ein idealistischer, wenngleich resignativ gestimmter Sozialist war, und dem praktisch handelnden sozialdemokratischen Bundeskanzler.» 1977 dann SPD-Parteitag in Hamburg. Auf Anregung Schmidts hatte man Frisch als Gastredner eingeladen. Der steht am Pult hinter Mikrofonen und hält eine Rede. «Ich kann mir nicht denken», sagte Frisch damals, «dass Politik ohne die lästige Assistenz der Intellektuellen eine geschichtliche Chance hat.»

Über seine eigene Rolle im Kräftespiel zwischen Kultur und Politik gab er sich keinen Illusionen hin. 1964 bereits fragte er rhetorisch: «Bin ich dadurch, dass ich mich vor anderen Mitbürgern auszeichne am Schreibtisch, berufen oder auch nur befugt, Staatsmännern schreibend die Aufgabe zu stellen, der ich mich dann selbst entziehe?» Frisch war da selbstkritischer, auch skrupulöser als viele seiner westdeutschen Kollegen, die mit Heinrich Böll von der moralischen «Interventionspflicht» der Schriftsteller sprachen und sich – keineswegs nur zum Vorteil der Literatur – zu allem und jedem äußerten.

«Der Schriftsteller ist ein Verräter», hat Walter Jens über Frisch geschrieben, als dieser die Siebzig erreicht hatte. Dabei hat Frisch immer nur von sich selbst erzählt, vom Alltag eines Mannes, der die verschiedenen Stadien seiner Entwicklung durchlebt, zuletzt begreift, dass er sich abhandenkommt und eingehen wird ins Unbewusstsein der Natur, in die Erdgeschichte mit ihren Jahrmillionen. Seine Erzählwerke projizieren das eigene Ich in literarische Figuren. Es entstehen Möglichkeitsmenschen, die Frisch ähnlich wie Musils Ulrich im Mann ohne Eigenschaften konzipiert, auf die Bahn bringt und sie wieder aus dem Spiel nimmt, wenn der Roman es so will.

«Sein Deutsch war», wie Reich-Ranicki urteilte, «wie der Stil anderer großer Schweizer, etwa Robert Wal­sers, von etwas Linkischem, vom Unbeholfenen oder scheinbar Unbeholfenen nie ganz frei. Es mag aber sein, dass gerade das, was von manchen als störend empfunden wurde, seiner Diktion zu ihrer herben Zartheit verholfen hat und zu jener Qualität, die sich kaum überschätzen lässt: Frischs Sprache erweckt Vertrauen.» Und Günter Grass erinnert sich: «Mir hat er, neben vielem, aus langer Rede einen leicht stotternd, deshalb wiederholt gesprochenen Satz als Rat hinterlassen: Nicht weise werden, zornig bleiben.»

Als Max Frisch kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag starb, hatte die Schweiz innerhalb weniger Monate ihre zwei bedeutendsten Autoren verloren: Der betont unpolitische Friedrich Dürrenmatt hatte sich als Erster von der Weltbühne verabschiedet. Damals, im Jahre 1991, schickten sich die Schweizer dazu an, das 700-jährige Bestehen der ältesten Demokratie moderner Zeitrechnung zu feiern. Damals wurde freilich auch bekannt, dass die Schweizer Regierung ein gutes Fünftel der aktiven Bevölkerung als potenzielle Landesverräter hatte registrieren und beobachten lassen. Es gab auch über Max Frisch eine Karteikarte mit Informationen, die man sich nur durch das Abhören von Telefongesprächen hatte besorgen können. Das mochte mit seinem politischen Engagement zusammenhängen, seiner schroffen Parteinahme gegen den Vietnam-Krieg und für die «Neue Linke» in Europa. Wilhelm Tell für die Schule oder auch das Dienstbüchlein – Alterswerke, die Frischs frühe Erfahrungen der Kriegszeit mit aufnehmen, belegen, dass auch seine späten Lebensjahre nicht frei sind von Distanz und Korrekturen, eben auch in der Beziehung zu seinem Land, der Schweiz. An dieser Heimat hat er sich gerieben, hat sich mit ihr gestritten – und ist da­rüber zum Weltbürger geworden.

Wolf Scheller

Der Text ist entnommen aus: http://www.kas.de/db_files/dokumente/die_politische_meinung/7_dokument_dok_pdf_1630_1.pdf