Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №1/2008

Literatur

Adolf Muschg: Ein Glockenspiel

Anno 1792, im späten August, empfing Amadeus Breitkopf, Kaplan im links­rheinischen Bodenheim und kein junger Mann mehr, einen mit «Röse» gezeichneten Brief, dessen Verfasserin angab, seit einigen Wochen vom Teufel besucht zu werden. Da der Kaplan gleichen Tages seinen Visitator zu bewirten hatte, blieb ihm keine Ruhe, das fatale Schreiben, das er unter sein Kopfkissen schob, eines zweiten Blickes zu würdigen. Der Vorgesetzte fand an seiner Amtsführung und Haushaltung ohnedies genug auszusetzen. Die Pfarre sei verwildert, der Hirte lasse das gefährliche Wesen der Republikaner aus den Augen und diene seine Pflichten nur der Form nach ab, ohne durch tätige Mission, durch freundliches Hin- und Wiedergehen ein übriges zu tun. Wenn der viel jüngere Visitator, ein grämlicher Mensch, das Wort «Liebespflicht» gebrauchte, nahm sein Mund einen höhnischen Zug an; davon abgesehen, mußte der Kaplan die Berechtigung der Schelte zugeben, stellte nur bösen Willen in Abrede. Er hatte seine Eltern nie gekannt und hielt sich gewissermaßen für eine Waise von Natur, daran hatten die Jahre nichts geändert. Vor den Menschen trug er heimliche Scheu und staunte über jeden, der mit ihnen geläufig verkehrte. Es war ihm immer so vorgekommen, als sei ihre Zuneigung nur durch Gebrauch unsauberer Künste zu erwerben, und nachbarliche Worte kamen ihm bei solchen, die sie anwandten, wie eine Art Herablassung vor. Verdiente das Volk denn nichts Besseres? Da er im Waisenhaus seinem Fürstbischof, dem Vorgänger des gegenwärtigen, durch Bescheidenheit aufgefallen war, hatte er das Carolineum beziehen und zu seiner Zeit die heiligen Gelübde ablegen dürfen. Jetzt war sein Verhältnis zu den Menschen durch die Weihen und einen festen Rahmen geregelt, und er wußte nicht, warum ihm zu seinem Amt die rechte Liebe fehlen sollte. In seinen Schriften, die er seit Jahren verfaßte, zeigte er sich als mutiger Philanthrop.
Indessen war der Visitator kaum der Mann, bei dem persönliche Bekenntnisse gut aufgehoben waren, und so begnügte sich der Kaplan mit dem Hinweis, daß er immerhin mit seiner Feder im Volke gewirkt und dem sittlichen Fortschritt auf dem Lande Vorschub geleistet habe. Mit der Feder! entgegnete sein Besucher nicht ohne Schärfe, schon recht; nur sei die Zeit vorbei, da man sich mit solchen Federn habe schmücken dürfen. Keine Schriftstellerei vermöge die inbrünstige und leibhaftige Seelsorge, deren das verwirrte Landvolk bedürfe, zu ersetzen; und wohin der Fortschritt geführt habe, zeige ja der flüchtigste Blick über die Grenze, an welcher das Unwesen nicht Halt gemacht habe, wie der sogenannte Freiheitsbaum neben der Dorflinde überdeutlich zeige. Der Kaplan, der, einer hartnäckigen Erkältung wegen, seine Pfarre nicht mehr verlassen, aber ein Werklein über den Garten Eden gefördert hatte, hütete sich vor dem Geständnis, daß ihm der Freiheitsbaum unbekannt geblieben sei, erinnerte nur daran, daß er nicht vom Fortschritt schlechterdings, sondern vom sittlichen gehandelt habe. Worauf der Besucher, in seinen Landwein starrend, entgegnete: Was gestern noch Sitte gewesen sei, nenne sich heute Tugend und werde sich morgen nicht scheuen, als Gottlosigkeit hervorzutreten, wofür es in Paris Beispiele genug gebe. Er hoffe, fügte er nach einer Pause mit düsterem Spott hinzu, die Tugend sei mindestens in diesem Hause wohl aufgehoben, wozu allerdings, wenn man seine Köchin betrachte, kein sonderliches Verdienst gehöre. Der Kaplan erschrak über diese Verwandlung seines Besuchers, der ihm weiterhin Stücklein von Hofe zu berichten wußte, bei denen sein freier Geist und auch sein erotisches Zartgefühl in überraschendem Lichte erschien. Danach nahm er Urlaub; der Kaplan verneigte sich und bemerkte, ohne erkennbaren Zusammenhang, er habe Fieber.

Fortsetzung folgt

ab|die|nen <sw. V.; hat> (veraltend): (eine vorgeschriebene Dienst-, Ausbildungszeit o. Ä.) voll ableis­ten.
gräm|lich <Adj.>: verdrießlich, [bekümmert u.] missmutig: ein -er Mensch; ein -es Gesicht.
Schel|te, die; -, -n <Pl. selten> [mhd. schelte, ahd. scelta = Tadel, strafendes Wort, zu schelten] (geh.):
1. in schimpfendem Ton geäußerte Worte, mit denen jmd. zurechtgewiesen wird; laut vorgebrachter Tadel. 2. (Sprachw. veraltend) abwertender Ausdruck.
Ab|re|de, die; -, -n: 1. <Pl. selten> (veraltend) Verab­redung, Vereinbarung: keiner A. bedürfen. 2. *etw. in A. stellen (bildungsspr.; be-, abstreiten).
ge|läu|fig <Adj.> [verstärkend für mhd. löufec, läufig]: 1. durch häufigen Gebrauch allgemein bekannt, vertraut, üblich: -e Redensarten. 2. fließend, perfekt: in -em Französisch; g. Klavier spielen.
Ge|lüb|de, das; -s, - [mhd. gelüb(e)de, ahd. gilubida, zu geloben] (geh.): feierliches [vor Gott abgelegtes] Versprechen: ein stilles, heiliges G.; das G. der Armut, der Keuschheit; sein G. erfüllen, halten, verletzen, brechen; die ewigen G. (kath. Kirche; die Ordensgelübde) ablegen; an, durch ein G. gebunden sein; die Nonne wurde von ihrem G. befreit.
Vor|schub, der; -[e]s, Vorschübe [zu vorschieben]: (veraltet) Begünstigung, Förderung, Unterstützung: *jmdm., einer Sache V. leisten/(geh. auch:) tun (geh. auch; die Entwicklung einer Person, Sache begünstigen): der Umweltzerstörung, dem Verbrechen, dem Radikalismus, der Diktatur V. leisten.

Adolf Muschg

(*13. Mai 1934 in Zollikon, Kanton Zürich),
ist ein Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler.
Adolf Muschg studierte Germanistik, Anglistik sowie Philosophie in Zürich und Cambridge und promovierte über Ernst Barlach.
Von 1959 bis 1962 unterrichtete er als Gymnasiallehrer in Zürich, dann folgten verschiedene Stellen als Hochschullehrer, unter anderem in Deutschland (Universität Göttingen), Japan und den USA. 1970 bis 1999 war er Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.
Seit 1976 ist er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, daneben ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. 2003 wurde er zum Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin gewählt. Von diesem Amt trat er am 15. Dezember 2005 überraschend zurück. Grund für diese Entscheidung seien «unüberbrückbare Differenzen mit dem Senat der Akademie». Der Umzug in den Neubau am Pariser Platz sei nicht dafür genutzt worden, die Aktivitäten der Akademie stärker in die Öffentlichkeit zu tragen.
Er lebt in Männedorf bei Zürich.
Auszeichnungen: 1968 Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, 1974 Hermann-Hesse-Preis, 1984 Zürcher Literaturpreis, 1990 Carl-Zuckmayer-Medaille, 1993 Ricarda-Huch-Preis, 1994 Georg-Büchner-Preis, 2001 Grimmelshausen-Preis.
Werke: Im Sommer des Hasen (1965), Gegenzauber (1967), Fremdkörper (1968), Rumpelstilz. Ein kleinbürgerliches Trauerspiel (1968), Mitgespielt (1969), Papierwände (1970), Die Aufgeregten von Goethe. Ein politisches Drama (1971), Liebesgeschichten (1972), Albissers Grund. Kriminalroman (1974), Entfernte Bekannte (1976), Kellers Abend. Ein Stück aus dem 19. Jahrhundert (1976), Noch ein Wunsch (1979), Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft (1980), Leib und Leben (1982), Das Licht und der Schlüssel. Erziehungsroman eines Vampirs. Roman (1984), Goethe als Emigrant (1986), Der Turmhahn und andere Lebensgeschichten (1987), Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival (1993), Herr, was fehlt euch? Zusprüche und Nachreden aus dem Sprechzimmer eines heiligen Grals (1994), Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat. Sieben Gesichter Japans (1995), O mein Heimatland! (1998), Sutters Glück (2001), Das gefangene Lächeln. Eine Erzählung (2002), Gehen kann ich allein und andere Liebesgeschichten (2003), Der Schein trügt nicht. Über Goethe (2004), Eikan, du bist spät (2005).

Aus: Adolf Muschg: Leib und Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982. S. 361–373.