Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №9/2007

Das liest man in Deutschland

«Keiner von uns ist ganz normal»

Als Erstes wurde ihr Vater von den Nazis verschleppt, im Ghetto von Lodz verlor sie schließlich auch noch ihre Mutter und ihre Schwester. Jetzt kehrte Lucille Eichengreen für einige Tage an die Orte des Grauens zurück.

Hamburg – Langsam geht Lucille Eichengreen auf das steinerne Mahnmal zu. «Bergen-Belsen 1940 bis 1945» ist darauf zu lesen. Die 81-Jährige legt einen Stein ab – ein jüdischer Brauch, um der Verstorbenen zu gedenken. «Es ist noch immer nicht leicht hierherzukommen.» Dort, wo heute grüne Wiesen sind, sieht sie die Baracken von früher, die Hungernden, die Kranken, die Toten. Lucille Eichengreen hat überlebt – das Ghetto Lodz, Auschwitz, das Dessauer Ufer, ein Außenlager von Neuengamme, und schließlich Bergen-Belsen. Am 15. April 1945 wurde die Tochter polnischer Juden dort von der britischen Armee befreit. Da war sie gerade 20.

Die erste Station des Grauens war Lodz. Eichengreen wurde mit dem ersten Hamburger Transport im Oktober 1941 in das dortige Ghetto gebracht. «Für mich war Lodz schlimmer als Auschwitz», sagt sie. «Es gab kein fließendes Wasser, keine Toiletten. Ich habe jahrelang kein Stück Seife gesehen.»

Über drei Jahre lebte Eichengreen im Ghetto. Dort verhungerte ihre Mutter. Von dort wurde ihre kleine Schwester abtransportiert und vergast. Der Vater war bereits im Januar 1941 in Dachau gestorben. Wie, das weiß Eichengreen bis heute nicht. «Die Gestapo kam zu uns und warf eine Zigarrenkiste auf den Tisch. Ich bin nicht mal sicher, ob die Asche darin die meines Vaters war. Die Menschen wurden ja zuhauf verbrannt.»

Wie ist es möglich, diese Erfahrungen zu verkraften? «Das Leben und der Hunger im Ghetto gingen weiter. Es war zu lang und zu viel. Irgendwann machte es keinen Unterschied mehr, ob man lebte oder nicht. You didn’t care anymore. Es war gleichgültig.» Lucille Eichengreen erzählt sehr gefasst. Als habe sie nach all den Jahren gelernt, über die Vergangenheit zu sprechen, ohne sie zu fühlen. Nur in ihrer Familie ist das Thema Tabu. «Da fängt jeder an zu weinen. Es ist zu schmerzhaft.» Als ihre Söhne 18 waren, erzählte sie ihnen, was passiert ist. «Aber nur das Nötigste. Wenn sie mehr wissen wollten, mussten sie es nachlesen.» Lucille Eichengreen hat über ihre Erlebnisse drei Bücher geschrieben.

«In Auschwitz gab es den elektrischen Draht», erinnert sie sich an die nächste Station. «Einige haben ihn angerührt und sind gestorben.» Was hat sie davon abgehalten, es auch zu tun? «Ich hatte eine Freundin aus Prag. Sie durchlief alle Lager mit mir und sagte ‹Warte noch etwas›. Und dann kam der Viehwagentransport ans Dessau-Ufer.» Konnte sie sich auf Freundschaften einlassen, obwohl es die Gefahr barg, noch mehr Menschen zu verlieren? «Freunde waren wichtig. Wenn du Typhus hattest, brachte dir jemand Wasser. Ohne Freunde hätte man nicht überleben können.»

Bergen-Belsen war eigentlich nicht zu überleben

Im März 1945 kam Eichengreen schließlich nach Bergen-Belsen. «Am Eingang lagen zwei riesige Stapel mit Schuhen in allen Größen und Farben. Ich habe mich gefragt, wo die Menschen dazu sind.» Schnell begriff sie, dass Bergen-Belsen Tod bedeutete. «Es gab kein Essen, kein Wasser, die Latrinen waren unbeschreiblich verdreckt. Fast jeder hatte Typhus.» Lucille hatte Glück, erst kurz vor Kriegsende in das verwahrloste Bergen-Belsen zu kommen.

Als der Krieg vorbei war, half sie den Briten, indem sie für sie übersetzte. «So hatte ich wenigstens etwas zu tun.» Fröhlich war die Befreiung nicht. «Einen Moment war man froh, aber dann kam das Bewusstsein: Ich hatte keine Familie mehr.» Die Engländer brachte sie schließlich auf die Spur von 40 SS-Leuten des Lagers in Neuengamme. «Ich hatte mir ihre Namen und Adressen gemerkt. Doch nach den Festnahmen bekam ich Morddrohungen von den Familien.»

Eichengreen floh nach Paris. Dort bekam sie ein Ausreisevisum für die USA. Im März 1946 ging sie mit drei Dollar in der Tasche nach New York und fand Arbeit in einer Handschuhfabrik. Sie traf ihren späteren Mann, Dan Eichengreen. Er war bereits vor dem Krieg von Deutschland in die USA emigriert. «In Amerika hat man mich gefragt, was ich getan habe, um zu überleben. Wenn du aus einem Lager kamst, wurdest du in der Gesellschaft nicht akzeptiert. Die Familie meines Mannes war nicht glücklich mit der Hochzeit. Nach unserem Umzug nach Kalifornien habe ich den Kontakt zu ihnen abgebrochen.»

Einmal während ihrer Leidenszeit fühlte sich das Opfer selbst schuldig. Im Januar 1944 wurden 2000 junge Frauen aus Lodz abtransportiert. Auch Eichengreen stand auf der Liste. «Weil ich Beziehungen hatte, wurde mein Name gestrichen. Die Frage, ob an meiner Stelle eine andere Frau sterben musste, hat mich sehr gequält.»

Die Angst blieb jahrelang

Es hat lange gedauert, bis Eichengreen nach der Befreiung aufhörte, Angst zu haben. Noch Jahre später drehte sie sich um, wenn jemand hinter ihr ging. «Einmal waren meine Mutter und ich bei Dunkelheit draußen. Wer nachts auf der Straße erwischt wurde, der wurde erschossen. Plötzlich hörten wir hinter uns Schritte und sahen das Licht zweier Taschenlampen. Wir rannten weg, ich fiel und landete in der nassen Rinne neben dem Kantstein. Stiefel traten auf meine Hand, aber die Taschenlampen verschwanden in der Ferne.» Im Traum kam diese Szene immer wieder. «Wenn ich gefallen bin, habe ich geschrien. Mein Mann hat mich dann aufgeweckt.»

Ein Freund ihres Vaters in New York war Psychologe, zu dem sie gehen konnte. «Er wollte alles wissen. Ob er mir helfen konnte, kann ich gar nicht sagen. So etwas hätte Jahre gedauert. Die Menschen, die sowas überlebt haben, sind geschädigt. Alle. Einige mehr als andere. Aber keiner von uns ist ganz normal.»

Das Wort Heimat hat für Eichengreen keine Bedeutung. «Meine Söhne sind Amerikaner, und ich lebe seit 60 Jahren in Amerika, aber zu Hause bin ich nirgends.» Ihr Englisch ist fehlerfrei, doch bis heute hat sie einen Akzent. Wenn sie Deutsch spricht, erkennt man die Hamburger Herkunft.

Trotzdem hat es fast 50 Jahre gedauert, bis sie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzte. 1991 folgte sie einer Einladung des Hamburger Senats. Der Besuch war schmerzhaft. Bis heute fällt es ihr schwer, in das Land zurückzukehren, das ihr die Jugend und die Familie genommen hat. Wirklich gläubig ist sie nicht. «Wenn es einen Gott gibt, wo war er, als eine Million Kinder sterben mussten?»

Von Julia Kloft

Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Von Martin Doerry, Monika Zucht. Spiegel Buchverlag, DVA 2006.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/0,1518,463242,00.html